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Der Fall Bausch IV
Hatte Georg Bausch Heinzelmännchen unter Vertrag?
Die "bohrenden" Fragen stellt Rolf Hohmann

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Mit diesem Tischbohrgerät wurden die Versuche durchgeführt. In der Schale Kieselsteine, Stoppuhr, Schieblehre und Bohrer verschiedener Stärke.
Foto: Rolf Hohmann
Bis zum heutigen Tag werden von den Prähistorikern die von Dr. Gudrun Loewe in ihrem Beitrag "Zur Frage der Echtheit der jungsteinzeitlichen "Wetterauer Brandgräber" (Germania 1958) angestellten theoretischen Überlegungen und Untersuchungsergebnisse ohne einen Kritikansatz für bare Münze genommen. Auch in der Populärliteratur wird munter behauptet, daß Gudrun Loewe den Windecker Brunnenbauer Georg Bausch, Vorarbeiter des angesehenen Wissenschaftlers Prof. Dr. Georg Wolff, als Fälscher der Wetterauer Brandgräber "entlarvt" hat. Das Ergebnis ihrer Recherchen faßt Gudrun Loewe in folgendem Satz zusammen: "Die in diesem Bericht vorgetragenen Bedenken haben mich zu der Überzeugung gebracht, daß die "Wetterauer Brandgräber" nebst ihren Beigaben von Bauschs Hand herrührten."

Weitgehend aufgrund von Indizien bezichtigte Gudrun Loewe rund 40 Jahre nach dem Geschehen einen unbescholtenen, längst verstorbenen Mann krimineller Machenschaften. Und zwar als Einzeltäter, denn die Verfasserin deutet nirgendwo an, daß Bausch eventuell Helfer hatte oder dubiosen Hintermännern als Strohmann diente. Auf Wunsch der Bausch-Enkelin Maria Schmidt habe ich mich in den vergangenen zwei Jahren intensiv mit diesem "Fälscherkrimi" beschäftigt und alle erreichbare Literatur über die Fernleihe der Landeskundlichen Abteilung der Stadtbibliothek Hanau bezogen. Die Kopien füllen immerhin fünf breite Aktenordner. Außerdem führte ich mit betagten Windeckern zahlreiche Gespräche.

Gudrun Loewe standen als einziges "handfestes" Beweismaterial nur die wenigen erhalten gebliebenen Grabbeigaben zur Verfügung. Hier bilden die Schmuck-Halsketten aus Kieselsteinen den Schwerpunkt. Sie sorgten nach ihrem Auffinden kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges für Aufregung unter den Fachwissenschaftlern. Da mich vorrangig die Frage interessierte, welcher Zeitaufwand benötigt wurde, um die Löcher in die Kieselsteine zu bohren und die Verzierungen herzustellen, nahm ich die in den Jahren 1907/08 auf dem "Tannenkopf" bei Butterstadt entdeckten und ausgebeuteten 32 Brandgräber und vor allem die gleich große Zahl der Kieselsteinketten näher in Augenschein. Mir wurde sehr schnell klar, daß Gudrun Loewe den "Zeitfaktor" sträflich vernachlässigt hatte. Schon bei einer groben Schätzung der in die Tausende gehenden Bohrlöcher sowie Näpfchen- und Strichverzierungen hätte ihr bewußt werden müssen, daß eine Person in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht in der Lage gewesen sein konnte, diese Arbeiten  durchzuführen. Gudrun Loewe mag zwar auf ihrem Fachgebiet eine gute Theoretikerin gewesen sein, doch von praktisch-technischen Dingen hatte sie offensichtlich wenig Ahnung.

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Diese selbstgesbastelte Vorrichtung zum Einklemmen der Kieselsteine erfüllten ihren Zweck hervorragend.
Foto: Rolf Hohmann
Die zentrale Frage "Wie kamen die Löcher in die Kieselsteine?" beschäftigte die Wissenschaftler bis zum Erscheinen der Loewe-Abhandlung im Jahr 1958. Auf Seite 426 bemerkt die Autorin: "Ungeahnte technische Fähigkeiten der Steinzeitmenschen schienen sich in den feinen Durchbohrungen und Verzierungen anzudeuten. Wolff setzt ohne Bedenken voraus, daß die oft weniger als 1 mm feinen und bis zu 5 mm langen zylindrischen, anscheinend meist von beiden Seiten her geführten Bohrungen mit dem Silexbohrer ausgeführt worden seien." Gudrun Loewe führt dann weiter aus: "Die Vermutung, daß die feinen Bohrungen und Punktverzierungen wie auch die bei einigen Kieseln umlaufenden Halsrillen, nur mit einem neuzeitlichen Stahlbohrer hergestellt sein können, bewog mich, eine Anzahl Kiesel- und Schieferanhänger der Materialprüfungsanstalt der Technischen Hochschule Darmstadt vorzulegen." Aus den vorhandenen Unterlagen des Hanauer Geschichtsvereins geht - mit einer Ausnahme - nicht hervor, aus welchen Gräbern die ausgewählten Artefakte stammen und ob die untersuchten Stücke zusammen mit dem Gutachten dem Historischen Museum Hanau zurückgegeben wurden.

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Auf dieser Skizze hat Prof. Wolff alle Verzierungsarten der Kieselsteine zusammengefasst.
Repro: Rolf Hohmann
Dem lediglich 13 Druckzeilen umfassenden Gutachten der Materialprüfungsanstalt Darmstadt vom 1. November 1954 ist zu entnehmen, daß die zur Verfügung gestellten Artefakte zerschnitten und die Bohrkanäle durch Abschleifen freigelegt wurden. Der Text befasst sich nahezu ausschließlich mit einem besonderen Kieselstein: "Die Bohrungen sind auffallend fein und besonders bei einem Kiesel zylindrisch durchgehend. Die Enden des Bohrkanals sind an diesem Kiesel, im Gegensatz zu den anderen Stücken, nicht konisch erweitert. Das Erscheinungsbild ist an diesem Kiesel entsprechend einer heutigen Bohrstelle. Auch mit dem Mikroskop ließen sich keine abgesetzten Rillen in der Wandung beobachten, die auf ein etappenweises Arbeiten schließen ließen. Es kann gesagt werden, daß die Bohrung besonders an diesem Stück durchaus den mit neuzeitlichen Geräten hergestellten Bohrlöchern entspricht und sich stark von den abgesetzten und an den Enden konisch ausgeweiteten Bohrungen der Steinzeit unterscheidet."

Es liegen weder von Gudrun Loewe noch von der Materialprüfungsanstalt Angaben über Anzahl und Fundort der untersuchten Artefakte vor. Am meisten erstaunt die Tatsache, daß der Gutachter lediglich einige Bohrkanäle durch Anschleifen "vorsichtig freigelegt" hatte, aber es offensichtlich für überflüssig hielt, Steine selbst zu durchbohren, um Vergleiche mit den Vorlagen anzustellen. Von einem Fachmann sollte man eine solche Selbstverständlichkeit eigentlich erwarten dürfen. Die ganze "Fälscherstory" hätte vielleicht einen anderen Verlauf genommen, wenn dem Gutachter bei Bohrversuchen bewußt geworden wäre, welcher Zeitaufwand dafür benötigt wurde. Die Feststellung, daß zumindest eine Bohrung die Verwendung eines modernen Stahlbohrers nahelegte, reichte für Gudrun Loewe als Beweis für ihre Fälschertheorie aus. Da im Gutachten jedoch ausdrücklich erwähnt wird, daß die Bohrkanäle der anderen untersuchten Artefakte "konisch erweitert" waren ist die Frage erlaubt, was für ein Bohrer dabei verwendet wurde? Es darf weiter bezweifelt werden, daß dem Gutachter original steinzeitliche Vergleichsmuster vorlagen. Darauf wäre sicher hingewiesen worden. Diese kargen Ergebnisse wären auch in der Lehrwerkstatt eines kleinen Ausbildungsbetriebes zu erzielen gewesen.

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Zum Einsatz kamen verschieden Arten von Stahlbohrern. Das Ergebnis wurde auf einem Karton festgehalten.
Foto: Rolf Hohmann
Gudrun Loewe hat "zur Erprobung des Arbeitsvorganges" selbst zwei Löcher in einen Schieferanhänger aus der Büdesheimer Gemarkung gebohrt, und zwar "mit der biegsamen Welle eines Elektromotors." Trotz intensiver Korrespondenz mit alteingesessenen Herstellerfirmen und Museen habe ich nicht herausfinden können, ob es vor dem Ersten Weltkrieg bereits biegsame Wellen für Bohrfutter gegeben hat. Wahrscheinlich nicht. Gudrun Loewe setzte es offensichtlich als gegeben voraus, daß Georg Bausch über ein solches Gerät verfügte. Sie hat sich ihren "Versuch" zudem ziemlich leicht gemacht, denn im Gegensatz zu den "harten" Kieselsteinen ist der weiche Schiefer sehr leicht zu bearbeiten. Trotzdem hatte sie bei ihrem ersten Bohrversuch Schwierigkeiten. Ihr Bohrer kam nämlich ins Schleudern, "weil ich nicht rechtzeitig das feine Bohrmehl des Tonschiefers ausblies." Man stelle sich einmal bildlich vor, wie der "Fälscher" Bausch freihändig mit einem 1 mm-Bohrer an einer biegsamen Welle jeweils zwei Löcher in die auf der "Verschlußseite" zumeist nur 13 x 11 Millimeter messenden Kettenglieder bohrte. Eine absurde Vorstellung jenseits allen technischen Sachverstands.

Ich habe mit meinem Tischgerät in eine 5 mm starke Schieferplatte ohne Schwierigkeiten und "schleuderfrei" ein Dutzend 1 mm-Löcher gebohrt, ohne das Bohrmehl auszublasen. Nur Hermann Müller-Karpe führte Bohrversuche an Mainkieseln durch. In seiner Abhandlung "Zur Originalitätsfrage der Wetterauer Brandgräber" (1943) berichtet er darüber: "Um zu sehen, ob modern hergestellte Kieselanhänger den Bausch'schen ähnlich seien, habe ich selbst einmal flache Mainkiesel gesammelt, wobei man unschwer die bezeichnende ovale Form findet, die für unsere Ketten typisch ist, und sie mit einem gewöhnlichen Stahlbohrer durchlocht." Leider fehlt jeder Hinweis darauf, welche Stärke die Versuchs-Kiesel aufwiesen und welche Zeit für eine Durchbohrung benötigt wurde. Weiter schreibt Müller-Karpe: "Ein eigener Versuch, Kiesel mit Holz-oder Knochenbohrern oder mit Silexsplittern zu durchbohren, scheiterte leider an den technischen Voraussetzungen. Eine Beobachtung jedoch verdient erwähnt zu werden. Während die mit dem Stahlbohrer hergestellten Durchbohrungen sich nach einer Seite verengten, also leicht konisch waren, konnte man bei den Bausch'schen Kieseln beobachten, wenn man sie in der Bohrungsstelle auseinanderbrach (was ich bei einer Anzahl der Exemplare tat), dass sie zweiseitig gebohrt waren und dass die Seelenachsen in den meisten Fällen nicht mathematisch genau übereinstimmten. Manchmal glaubte man sicher feststellen zu können, dass die beiden Hälften mit verschieden dicken Bohrern hergestellt seien. Der gleichen Art der Durchbohrung begegnet man schließlich auch bei Hunde- oder Schweinezähnen, die nicht nur in den Wetterauer Brandgräbern, sondern zahlreiche auch sonstwo in steinzeitlichem Zusammenhang gefunden werden und ebenfalls als Anhänger zu Halsketten getragen wurden. Rein theoretisch gesehen steht eigentlich nichts im Wege anzunehmen, dass die Wetterauer Bandkeramik-Leute als Halsschmuck flache durchbohrte Flußkiesel verwendeten."

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Auf diesem im Mainzer Zentralmuseum erhalten gebliebenen Aquarell sind punktverzierte Kettenanhänger aus einem Butterstädter Brandgrab abgebildet. Man beachte die "ausgefransten" Bohrlöcher.
Repro: Rolf Hohmann
Mit den Mitteln der heutigen Elektronenmikroskopie und anderen Verfahren kann nach Auskunft der Staatlichen Materialprüfungsanstalt Darmstadt problemlos nachgewiesen werden, ob bei Durchbohrug eines Kieselsteins ein Metallbohrer verwendet wurde. Eine Analyse kostet € 300,- und um zu einem eindeutigen Ergebnis zu gelangen, müßten mindestens zehn Kieselsteine aus möglichst weit auseinanderliegenden Fundlagen und Zeitstellungen untersucht werden. Sponsoren sind willkommen! Sollten in den Bohrlöchern keine Metallrückstände nachgewiesen werden, so wäre dies noch kein absoluter Beweis dafür, daß die Bohrlöcher in den Artefakten aus jungsteinzeitlichen Wetterauer Brandgräbern stammen oder doch erst Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden sind. Einige Fachleute sind nämlich der Überzeugung, daß Diamantbohrer zum Einsatz gekommen sind.

Von den 32 auf dem "Tannenkopf" geborgenen Steinketten haben nur elf die Wirren des Zweiten Weltkrieges unbeschadet überstanden. Sie werden im Historischen Museum Hanau, im Archäologischen Museum Frankfurt/Main und im Heuson-Museum Büdingen aufbewahrt. Sie wurden von mir mit Unterstützung meines Sohnes fotografiert und vermessen. Von neun verschollenen Exemplaren existieren Fotos. Bei den restlichen zwölf, ebenfalls verschollenen Steinketten, sind wir auf die im "Kutsch" und in den Veröffentlichungen von Georg Wolff enthaltenen Angaben über die Zahl der Anhänger, Verzierungen und so weiter angewiesen. Unter großem Zeitaufwand und in akribischer Kleinarbeit habe ich die Gesamtzahl der Bohrlöcher und annähernd die der Verzierungen ermittelt. Es wurden eingehende Bohrversuche an Mainkieseln entsprechender Größe aus dem Kieswerk Weiss bei Karlstein durchgeführt. Zum Einsatz kam eine Mannesmann Tischbohrmaschine, wie sie im Prinzip bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts verwendet wurden, und 1 mm Stahlbohrer des Fabrikats Connex aus dem Baumarkt. Ehe ich zu brauchbaren Ergebnissen kam, mußte ich viel Lehrgeld bezahlen und der Verschleiß an Bohrern war groß. Zunächst mußte eine Vorrichtung geschaffen werden, um die in der Längsachse zwischen 33 und 11 mm messenden Versuchsobjekte beim Bohren zu fixieren.

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Ohne Mühe konnten in eine Schieferplatte 1mm Löcher gebohrt werden. Die Hälfte ist zum besseren Sichtbarmachen mit einem Kreidestift markiert.
Foto: Rolf Hohmann
Die Verwendung eines sonst üblichen Maschinenschraubstockes war nicht möglich, da die zwar harten, aber gleiohzeitig spröden Kieselsteine beim Einspannen oft zersprangen. Ich bastelte aus einem Brett und zwei darauf befestigten, vorn zusammenlaufenden Leisten eine Haltevorrichtung, die ihren Zweck hervorragend erfüllte. Da kein Körner zum Markieren der Bohrlöcher verwendet werden konnte, mußte der 1 mm-Bohrer sehr kurz eingespannt werden, weil er sonst beim noch so gefühlvollen Ansetzen auf den zumeist gewölbten Steinen abrutschte und zerbrach. Gelöst wurde das Problem der Markierung auf der angebohrten Gegenseite mittels abgewinkelter Pinzette und einem Filzstift. Da die Oberflächen der Kieselsteine nicht ebenmässig waren, trafen die beiden "Seelenachsen" der Bohrungen anfänglich nie auch nur einigermassen exakt aufeinander. Nach jeweiligem einseitigen Unterfüttern der Steine wurden weitaus bessere Ergebnisse erzielt. Ich hielt es für erforderlich, diese Schwierigkeiten ausführlich zu schildern, denn damit hätte sich auch der gelernte Weißbinder und spätere Brunnenbauer Georg Bausch konfrontiert gesehen. Darüber hat sich Gudrun Loewe wohl nicht eine Sekunde lang den Kopf zerbrochen, sondern vielmehr durch das in meinen Augen dubiose Gutachten der Materialprüfungsanstalt Darmstadt in ihrem fast schon zwanghaften Drang nach "Entlarvung" gestärkt ihrer Überzeugung zum Ausdruck gebracht, "daß die "Wetterauer Brandgräber" nebst ihren Beigaben von Bauschs Hand herrührten."

Meine Zählarbeit ergab bei den 20 im Original und als Foto vorliegenden Steinketten 1977 Bohrlöcher. Da nichts gegen die Annahme spricht, daß die restlichen 12 verschollenen Ketten hinsichtlich der Zahl ihrer Glieder und Anhänger eine ähnliche Zusammensetzung aufgewiesen haben, wurden per Hochrechnung 1.186 Bohrlöcher ermittelt. Das ergibt in den 1907/08 geborgenen Kieselsteinketten eine Summe von 3.163 Bohrlöchern. Da beim Interpolieren die nicht exakt zu ermittelnde Anzahl von Beigaben in Form durchlochter Anhänger aus verschiedenen Materialien unberücksichtigt blieben, dürfte die tatsächliche Zahl der Bohrlöcher noch höher liegen. Die Härtegrade der Steine sind sehr unterschiedlich, worauf schon die verschiedenen Färbungen hinweisen. Für eine beiderseitig angesetzte Bohrung unter Wasserkühlung bei 2600upm wurden zwischen sechs und acht Minuten benötigt. Das ergibt einen Mittelwert von sieben Minuten.

Georg Bausch hätte also zur Herstellung der Bohrlöcher in den 32 Steinketten 3.163 x 7 = 22.141 Minuten = 369 Stunden = 15,4 Kalendertage à 24 Stunden = 46,1 Achtstundentage aufwenden müssen. Dabei ist der Ausschuß nicht berücksichtigt. Bei meinen Versuchen zersprang infolge zu stark ausgeübtem Drucks auf den Bohrer etwa jeder zehnte Stein. Der oder die Hersteller der Kieselsteinketten haben viel Mühe darauf verwendet, die meisten Exemplare mit einer Vielzahl Napf- oder Punktverzierungen und zusätzlich auch mit tief eingekerbten Strichmustern zu versehen. Prof. Wolff hat alle Verzierungsarten in einer Zeichnung festgehalten. Man mag angesichts der Formenvielfalt nicht daran glauben, daß der einfache Brunnenbauer Georg Bausch Schöpfer dieser Kunstwerke gewesen sein soll.

Die Zahl der "Näpfchen" auf den Anhängern und Kettengliedern der 11 Originale schwankt erheblich. So sind es beispielsweise auf der aus Grab XXV geborgenen Kette lediglich 36, auf der "Anhängerkette" aus Grab V befinden sich jedoch auf beiden Seiten nicht weniger als 1.250 Verzierungen. Ein bestimmtes Schema hinsichtlich der Anordnung der Näpfchen und Strichverzierungen ist nicht erkennbar. Die Gesamtzahl der Punktverzierungen auf den 11 Originalen beträgt 4.244 und die der Strichverzierungen 584. Eine Hochrechnung für die 32 zur Diskussion stehenden Steinketten unter Berücksichtigung der vorliegenden Literaturhinweise ergibt die erstaunliche Zahl von 12.346 "Näpfchen" und 1.115 Kerbverzierungen. Alle Versuche, mit einem 1 mm-Stahlbohrer die Napfverzierungen auf den abgerundeten Seiten der Kieselsteine herzustellen, scheiterten trotz aller angewandten Tricks. Um überhaupt ein Resultat zu erzielen, wurden mit nur unbefriedigendem Ergebnis, weniger "bruchanfällige" 2 mm-Bohrer eingesetzt. Für das Herstellen eines Näpfchens im relativ flachen Mittelbereich eines Kieselsteins benötigte ich durchschnittlich 45 Sekunden. Das ergibt 12.346 x 45 = 9.260 Minuten = rund 154 Stunden =  6,4 Kalendertage à 24 Stunden = 19 Achtstundentage. Wohlgemerkt, hierbei ist nur die reine "Bohrarbeit" berechnet worden. Die Zeit für das Einsetzen der einzelnen Steine in eine wie auch immer geartete Haltevorrichtung blieb dabei unberücksichtigt. Daß der oder die Hersteller der Steinketten während des Bohrens die Kieselsteine mit der Hand festgehalten haben könnten, schließe ich aufgrund meiner Versuche aus.

Bleibt noch die Frage offen, wie es dem "Meisterfälscher" Bausch gelungen sein sollte, die Strichverzierungen tief in die harten Kieselsteine einzukerben. Mit Stahlbohrern jeder Größe, handelsüblichen Metallfeilen- oder Sägen ist dies unmöglich. Das bestätigten mir alle befragten Fachleute. Diese Strichverzierungen könnten nach ihrer Auffassung nur mit einem Diamantwerkzeug eingeritzt worden sein. Von der "Chefanklägerin" Gudrun Loewe wurde diese Möglichkeit jedoch nicht in Betracht gezogen. Auch dieses Problem klammerte sie offensichtlich bewußt aus. Mit der "Diamantenvariante" werde ich mich in einem gesonderten Beitrag näher befassen. Um überhaupt eine Berechnungsgrundlage zu haben, nehme ich vorerst für jede Strichverzierung eine Mindest-Herstellungszeit von durchschnittlich drei Minuten an. Das ergibt 1.115 x 3 = 3.345 Minuten = rund 56 Stunden = 2,3 Kalendertage à 24 Stunden = 7 Achtstundentage. Außerdem hätte Georg Bausch zuvor erst die Kieselsteine beschaffen müssen. Wahrscheinlich aus dem rund 15 km von Windecken entfernten Main, denn in der nahe Windecken vorbeifliessenden Nidder gab es keine freiliegenden Kiesbänke. Damals existierten Kieswerke, in denen Berge sortierter Steine aufgeschüttet sind, noch nicht.

Da die von mir an den Originalen durchgeführten Messungen ergaben, daß die Größe der Steine von der "Anhängerseite" bis zum Verschluß kontinuierlich abnimmt und auch die Anhänger gleichmäßige Abstufungen aufweisen, hätte das Einsammeln genau aufeinander abgestimmter Steine auf einer Kiesbank im Main erhebliche Zeit in Anspruch genommen. Die durchschnittliche Zahl Glieder der 20 nachzählbaren Steinketten beträgt 33, die der Anhänger 17. Nach meinen Erfahrungen setze ich pro Kette mindestens eine Stunde für das Einsammeln der Kieselsteine an. Der Zeitaufwand dürfte jedoch erheblich größer gewesen sein. Für 32 Kieselsteinketten hätte Bausch also die gleiche Stundenzahl benötigt. Das wären 32 x 60 Minuten = 32 Stunden = 1,3 Kalendertage à 24 Stunden = 4 Achtstundentage. Nicht berücksichtigt ist bei dieser Kalkulation die für An- und Abfahrt erforderliche Zeit. Während meine Fahrten zum Kieswerk Weiss mit dem PKW etwa eine halbe Stunde dauerten, standen Georg Bausch nur die Eisenbahn bis zum Hanauer Hauptbahnhof und ein Fahrrad zur Verfügung. Fazit: Für die Herstellung der 1 mm-Bohrungen, der Napf- und Punktverzierungen sowie das Einsammeln der Kieselsteine würde ein "Fälscher" mindestens 611 Stunden = 26,7 Kalendertage à 24 Stunden = 76 Achtstundentage benötigt haben. Das  wäre der minimalste Zeitaufwand gewesen. Angesichts dieser Dimension stellt sich die Frage: Wieviele Heinzelmännchen hatte Georg Bausch verpflichtet?

Unbeantwortet bleibt auch die Frage, mit welchem Gerät Georg Bausch in seiner kargen Freizeit die Löcher und Verzierungen in die mühselig zusammengeklaubten Kieselsteine gebohrt haben sollte. Und vor allem: wo? Geld für eine der damals teuren Bohrmaschinen hatte der "arme Schlucker" sicher nicht. Der "Meisterfälscher" lebte mit seiner kinderreichen Familie in beengten Wohnverhältnissen und heimliche "Dauerbohrungen" im "trauten Heim" wären  sicher bald Ortsgespräch gewesen. Der Brunnenbauer ist wohl auch kaum mit einem Eimer voller Kieselsteine in eine Schlosserei marschiert, hat hier eine Bohrmaschine mit Beschlag belegt und tagelang Löcher in Kieselsteine gebohrt. Dann wäre er bald in einer preußischen Klapsmühle gelandet. In seinem Buch "Vorzeit gefälscht" (1967) hatte Autor Adolf Rieth in seinem Kapitel über die Wetterauer Brandgräber bemerkt: "Die genauere Untersuchung an den Bohrungen der Kiesel ergab, daß die Bohrkanäle bei einem erstaunlich engen Durchmesser von kaum einem Millimeter durchgehend zylindrisch waren, während man eigentlich hätte erwarten können, daß sie sich von beiden Öffnungen her leicht konisch verengt hätten. Silexbohrer, mit denen man so feine Kanäle hätte bohren können, gab es nicht. Diese Löcher mußten vielmehr mit einem Stahlbohrer, wie ihn die Zahnärzte verwenden, hergestellt worden sein." An dieser Stelle soll einmal die Frage gestellt werden, weshalb der "Meisterfälscher" Georg Bausch eigentlich darauf "versessen" gewesen sein sollte, solche feinen Löcher in die Kieselsteine, Schieferplättchen und andere Artefakte zu bohren? Es wäre für ihn doch technisch wesentlich einfacher gewesen, 2- oder 3 Millimeter-Bohrer zu verwenden. Auch auf diese Frage werden die "Experten" eine Antwort schuldig bleiben.

Adolf Rieth hatte nun Stahlbohrer "wie ihn die Zahnärtzte verwenden" ins Spiel gebracht. Obwohl dies nirgendwo sonst in der Literatur nachzulesen ist, bin ich auch dieser "Spur" nachgegangen. Der Nidderauer Zahnarzt Dr. med. dent.  Klaus Racky erklärte sich bereit, in seinem Dentallabor an einigen zur Verfügung gestellten Mainkieseln Bohrversuche durchzuführen. Das Ergebnis ist auf unserer Homepage "www.geschichtsverein-windecken.de" unter der Überschrift "Die Zahnarztbohrer-Theorie" dürfte widerlegt sein" nachzulesen. Durch unsere Internet-Beiträge aufmerksam  geworden, meldete sich aus Köln Frau Sigrid Kuntz. Sie stellte hinsichtlich der "Gerätefrage" folgende Überlegung an: "Wirklichkeitsnäher scheint es mir zu sein, an einen Fiedel- oder Drillbohrer oder Dreul zu denken, wie ihn Goldschmiede früher verwendet haben und in manchen Gegenden der Welt vielleicht immer noch verwenden. Ein handliches Gerät, in der Beschaffung nicht allzu kostenaufwendig, eventuell sogar selber herzustellen, wenn man geschickt ist, und nach einiger Übung auch leicht zu bedienen. Dabei wird ein in einen Bogen eingespanntes Seil über eine Rolle geführt, über die der Bohrer gedreht wird; um das Ganze in Bewegung zu setzen und zu halten, führt man den Bogen wie einen Fiedelbogen beim Geigenspielen hin und her." Auch Ernst J. Zimmermann stellt in seinem umfangreichen Werk "Hanau Stadt und Land" (vermehrte Ausgabe von 1919) fest, daß die Punktverzierungen auf den Kieselsteinen "mit dem Drillbohrer hergestellt" wurden.

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In der Zeichenakadenie Hanau demonstrierte Dr. Bruno-Wilhelm Thiele an Kieselsteinen die Handhabung eines Einhanddreuls.
Foto: Rolf Hohmann
Um auch diese Möglichkeit nachzuprüfen wandte ich mich an die Zeichenakademie Hanau, an der auch Goldschmiede ausgebildet werden. Dr. Bruno-Wilhelm Thiele demonstrierte, daß mit einem "Einhanddreul" durchaus 1 mm-Löcher in Kieselsteine gebohrt werden können. Er schätzte, daß dafür etwa acht Minuten benötigt würden. Also etwa so lange wie mit einer elektrisch angetriebenen Tischbohrmaschine. Bei der Dreul-Demonstration stand kein Stahlbohrer zur Verfügung. Der Versuch soll aber noch durchgeführt werden. Nähere Einzelheiten dazu unter der Überschrift "Wie bekam Bausch die Löcher in die Kiesel?" auf unserer Homepage. Die angeschriebenen Hartmetallwerkzeugfabriken warteten mit weiteren interessanten Vorschlägen und Anregungen auf. Mehrfach empfohlen wurde der Einsatz von Schleifmitteln beim Bohren. Ralf Danger vom Technischen Kundendienst der Firma Gebr. Brasseler in Lemgo sandte das Foto eines "Einmaldiamanten" und bemerkte dazu: "Unserer Meinung nach können die Bohrungen nur mit einem derartigen Werkzeug hergestellt werden." Über diese Möglichkeit und andere Vorschläge wird in einem gesonderten Homepage-Beitrag berichtet.

Daß der Wolff-Vorarbeiter Georg Bausch in der ihm für seine "Fälschungen" zur Verfügung stehenden knappen Freizeit neben seiner "Kettenproduktion" und anderen, verbürgten Tätigkeiten in den Jahren 1907/08 auch noch 32 Brandgräber ausgehoben, mit den Beigaben versehen und ohne Verdacht zu erregen so "getürkt" haben sollte, daß selbst die Koryphäen unter den damaligen Fachleuten diesem "Schwindel" ohne Ausnahme aufgesessen sind, wäre tatsächlich eine unüberbietbare Meisterleistung. Man muß bedenken, daß nach Gudrun Loewe allein 1908 auf dem  "Tannenkopf" 20 Brandgräber ausgegraben wurden. Für seine Familie hätte Georg Bausch neben seiner umfangreichen "regulären" Ausgrabungstätigkeit beispielsweise auf dem römischen Gräberfeld des Römerkastells Marköbel und seiner "Fälscher-Schwarzarbeit" wohl keine Minute Zeit erübrigen können. Immerhin hatten bis 1907 bereits fünf seiner insgesamt acht Kinder das Licht der Welt erblickt. Über die Brandgräber "als solche" und deren mögliches "Türken" wird im nächsten Homepage-Beitrag ausführlich berichtet.

Trotz einer gewissen Unsicherheit bei den hochgerechneten Angaben über die Anzahl der Bohrungen und Verzierungen sowie bei der Beschaffung der Kieselsteine kann aufgrund meiner eingehenden Versuche davon ausgegangen werden, daß eine Person für die Anfertigung der zur Diskussion stehenden Kieselsteinketten über 70 Achtstundentage benötigt hätte; wahrscheinlich aber wesentlich mehr. Und zwar innerhalb von knapp zwei Jahren. Ich werfe Gudrun Loewe vor, in ihrem offensichtlich unbändigen Drang nach "Entlarvung" von Georg Bausch als Fälscher, jeden Gedanken an die zeitliche Machbarkeit der von ihr unterstellten Machenschaften des Wolff-Gehilfen entweder bewußt unterdrückte oder ganz einfach nicht das Format hatte, diesem wichtigen Faktor den entsprechenden Stellenwert zuzuordnen. War sie so sehr erpicht darauf, durch eine "wissenschaftliche Großtat" Anerkennung zu erhalten, die ihr durch ihre sonstigen spärlichen Veröffentlichungen nicht zuteil wurde, daß sie selbst das kleine Einmaleins der wissenschaftlichen Forschung außer acht ließ? Etwas in dieser Richtung vermuteten bereits Walter Gerteis und Bausch-Enkelin Erna Schulz. Als "gelernte" Archäologin hätte Gudrun Loewe wissen müssen, daß im Jahr X allgemein anerkannte Fakten vielleicht schon zehn Jahre später durch neue Ausgrabungsergebnisse widerlegt sein können. Ein wichtiger "Eckstein" ihrer Fälschertheorie war für sie die "Leichenbrandfrage", den sie mit einigen "Tricks" als Argument zu untermauern versuchte. Durch die Ausgrabungen in Elsloo/Südlimburg wissen wir aber längst, daß dieses Argument jede Beweiskraft verloren hat. In diesem Punkt wird Gudrun Loewe eindeutig widerlegt, wie später zu beweisen sein wird.

Das Fazit meiner noch nicht ganz abgeschlossenen Untersuchungen und Überlegungen lautet: Der von Dr. Gudrun Loewe in ihrer 1958 in der "Germania" veröffentlichten Abhandlung erhobene Vorwurf, "daß die "Wetterauer Brandgräber" nebst ihren Beigaben von Bauschs Hand herrührten" kann in dieser Form nicht aufrecht erhalten werden. Sollte der Nachweis gelingen, daß zur Herstellung der Bohrungen und Verzierungen der Grabbeigaben  moderne Stahlbohrer verwendet wurden, müßten zahlreiche Hände mitgewirkt haben. Daß dubiose Hintermänner aus irgendwelchen nicht erkennbaren Gründen dabei Regie geführt haben könnten, wird in Windecken immer noch kolportiert. Leider sind die "Wissenden"nicht bereit, etwas zur Aufklärung beizutragen. Wie dem auch sei, für mich steht fest, daß Georg Bausch zeitlich niemals auch nur annähernd in der Lage gewesen wäre, die ihm von Gudrun Loewe zur Last gelegten Fälschungen allein auszuführen. Diese Behauptung werde ich in späteren Beiträgen noch erhärten. Die Wissenschaftler sind aufgerufen, in ihren Veröffentlichungen vorerst den Hinweis zu unterlassen, daß Gudrun Loewe den Windecker Brunnenbauer Georg Bausch als Fälscher der Wetterauer Brandgräber in ihrer Gesamtheit "entlarvt" hat.


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