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Geschichtsverein Windecken 2000
 
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Große Turbulenzen im Turnverein Windecken vor dem Ersten Weltkrieg
Die Nazis machten nach der Machtübernahme kurzen Prozess
Eine Dokumentation von Rolf Hohmann

An den "Stadtvorstand Reul Wohlgeboren in Windecken" richtete Wilhelm Walther am 16. Juni 1888 folgendes Schreiben: "In Anlage erlaubt sich der unterzeichnete Vorstand des neu gegründeten Turnvereins, welcher die Bezeichnung "Grundstein zur Einigkeit" führt, die Statuten desselben ganz gehorsamst zur gefälligen Genehmigung vorzulegen. Ein Vereinslocal ist bis jetzt noch nicht bestimmt." 

Am 19. Juni 1888 hatte der Hanauer Landrat Graf Wilhelm von Bismarck Kenntnis von der Vereinsneugründung im alten Grafenstädtchen. Um an Wettkämpfen teilnehmen zu können, schloß sich der TV Windecken, wie er schon früh in der Abkürzung genannt wurde, dem Turngau Wetterau an. Nach Aufhebung der Soizialistengesetze im Jahre 1890 gründete sich neben der bestehenden Deutschen Turnerschaft (DT) der Arbeiterturnerbund (ATB). Damit waren parteipolitische Kontroversen in vielen Vereinen vorprogrammiert. 

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Diese Ehrenurkunde des Turnvereins Windecken wurde am 20. September 1891 fr Georg Waas ausgestellt, der erfolgreich an einem Wettringen teilgenommen hatte. Das gerahmte Original befindet sich im Nachlaß von Emmy Hohmann, geb. Waas.
Repro: Rolf Hohmann
"Den Turnverein Windecken erreichte diese Entwicklung im Jahre 1910. Hier ging es nicht so sehr um das Miteinander politisch unterschiedlich Denkender im Verein selbst, als vielmehr um den Beitritt zum ATB. Vom ATB war es nur zu logisch, parallel zu der seinerzeit ja auch weltanschaulich struktuierten Turnbewegung, eine eigene sozialdemokratisch ausgerichtete Vereinsbasis beizustellen." (Festschrift zum 100jährigen Jubiläum des TV Windecken 1988). Die Spannungen wuchsen und in der außerordentlichen Generalversammlung am 9. Juli 1910 kam es bei der Debatte über die Verlegung des Vereinslokals "Zum goldenen Löwen" in die "Hochmühle" zum Eklat. Im Laufe der nächsten Monate unternahm Bürgermeister Schlegel zwar den Versuch, die unter sich zerstrittenen "gutgesinnten" Vereinsmitglieder bei der Stange zu halten, aber der Bruch war unvermeidlich. Als der Turnverein "Grundstein zur Einigkeit" im September 1912 Mitglied im Arbeiter-Turner-Bund geworden war, erklärten die "gutgesinnten" Mitglieder ihren Austritt und gründeten den Turnverein Jahn, der sich umgehend der Deutschen Turnerschaft anschloß. 

Die Vorgänge im Landstädtchen Windecken wurden im Hanauer Landratsamt mit Argwohn verfolgt und nachdem sich die Situation im Frühjahr 1910 zugespitzt hatte, schaltete sich Ende Juni Landrat Freiherr Laur (1908-1918) ein. Er sandte dem parteilosen, und sich in diesem Vereinsstreit weitgehend neutral verhaltenen Bürgermeister Wilhelm Schlegel, folgendes Schreiben: 

"Zur Kenntnisnahme und Aushändigung des anliegenden Bescheides. Müller ist darauf hinzuweisen, daß der Verein, falls er den Zweck der Einwirkung auf politische Angelegenheiten verfolgt, unter die Bestimmungen des Vereinsgesetzes vom 19. April 1908 fällt, dessen §§ 3 und Ziffer 18,1 namentlich in Betracht kommen. Ich ersuche außerdem um Bericht, was dort über die Bestrebungen des Vereins bekannt ist." 

Der erwähnte Bescheid ist in der Archivakte nicht vorhanden. Einzelheiten über die Vorgänge im Turnverein Windecken sind dem Antwortschreiben des Bürgermeisters Schlegel vom 1. Juli 1910 zu entnehmen: 

"Gegen den Verein war bis jetzt nichts zu sagen. Auch bemühte sich der Vorstand und die gut gesinnten Vereinsmitglieder, dem Verein seinem Zweck entsprechend weiterzuführen. Hierbei werden denselben große Schwierigkeiten von einer Anzahl Vereinsmitgliedern gemacht, welche sich die erdenklichste Mühe geben, den Verein zu einem Arbeiterturnverein umzubilden bzw. seinen Beitritt zur Freien Turnerschaft herbeizuführen. Die betreffenden Mitglieder sind Sozialdemokraten. Es ist schon zu scharfen Auftritten bei den Generalversammlungen gekommen. Der Vorstand möchte den Verein von den Sozialdemokraten säubern und will die betreffenden Mitglieder ausschließen. Bei den hießigen Akten befindet sich ein Statut des Vereins, das besagt, daß politische Agitation im Verein unstatthaft ist. Das Vorstandsmitglied Otto Müller hat Abschrift von dem Statut genommen. In der nächsten Vorstandssitzung soll über den Ausschluß der sozialdemokratischen Mitglieder beschlossen werden." In der Präambel des Statutes heißt es: "Der Zweck des genannten Vereins ist "Kräftigung des Körpers und Geistes durch turnerische Übungen sowie Pflege echter Vaterlandsliebe, alle anderen Zwecke liegen ihm fern."

Im "Goldenen Löwen" ging es hart zur Sache

Am 9. Juli 1910 fand die bereits erwähnte außerordentliche Generalversammlung statt, in der es zu einer wüsten Keilerei gekommen sein muß. Darüber informierte Karl Vollbrecht bereits am nächsten Tag Bürgermeister Schlegel: 

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Vom Festprogramm des vom TV Windecken 1905 ausgerichteten 12. Turnfestes des Gaus Wetterau ist nur das Titelblatt erhalten.
Repro: Rolf Hohmann
"Unterzeichneter erlaubt sich hiermit, Ihnen folgendes mitzuteilen. Wie Ihnen hinlänglich bekannt ist, nahm die am 9ten dieses Monats abgehaltene Generalversammlung des Turnvereins Windecken einen stürmischen Verlauf, dank der seit einem halben Jahr unermüdlich betriebenen Hetze einiger Vorstandsmitglieder. Um derartige Streitigkeiten für die Zukunft zu vermeiden, hat sich die Mehrzahl der Mitglieder, darunter auch sämtliche aktive Turner, entschlossen, das Vereinslokal in das Gasthaus "Zur Hochmühle" zu verlegen. Als einen weiteren Grund zu der Lokalverlegung bemerke ich noch, daß der seitherige Turnplatz polizeilich geschlossen wurde, und auch im Junkerischen Lokale eine Einigung der Vereinsmitglieder unter diesem Vorstand gänzlich ausgeschlossen ist. Im Auftrage der Mehrzahl der Mitglieder und der aktiven Turner des Turnvereins Windecken." 

Wie turbulent es bei dieser Generalversammlung zugegangen war, ist dem Schreiben des Bürgermeisters vom 10. Juli 1910 an den Vorsitzenden des TV Windecken zu entnehmen: 

"Infolge der in Ihrem Verein bestehenden Streitigkeiten, die gestern abend in der Generalversammlung zu Tätlichkeiten ausgeartet sind, wird den Mitgliedern Ihres Vereins bis auf weiteres das Betreten des Turnplatzes auf dem städtischen Grundstück auf dem Zimmerplatz untersagt. Ich ersuche Sie, den Mitgliedern des Vereins dieses sofort bekannt zu machen und den Schlüssel zum Tor des Zimmerplatzes ungesäumt an mich abzuliefern. Polizeisergeant Bahro ist von mir ermächtigt, den Schlüssel in Empfang zu nehmen. Sollten die Mitglieder die Herausnahme von ihnen gehörigen Sachen, welche auf dem Turnplatz sich befinden, wünschen, so kann dieses im Beisein des Sergeanten Bahro bewirkt werden." 

Ebenfalls am 10. Juli 1910 verfaßte Georg Bauscher folgendes Schreiben an Bürgermeister Schlegel: 

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Mitglieder des Turnvereins Jahn Windecken bei einer Festzug-Ausstellung. Der Zeitpunkt der Aufnahme ist unbekannt.
Repro: Rolf Hohmann
"Hierdurch Ihnen zur Mitteilung, daß von den Mitgliedern des Turnvereins "Grundstein zur Einigkeit" eine Generalversammlung beim Vorstande des Vereins auf Mittwoch, den 13. Juli, abends 9 Uhr im Vereinslokal "Zum Löwen" beantragt ist. Die Mitglieder betreten hiermit den Boden des Gesetzes um die zur Zeit im Verein bestehenden Streitigkeiten zu regeln. Da heute das Gerücht verbreitet wurde, daß der Vorstand beabsichtige, in den nächsten Tagen die in der Hochmühle aufbewahrten Geräte zu holen und durch die Polizei dabei unterstützt werden soll, so wird Veranlassung genommen, Sie auf die Folgen eines solchen Vorgehens aufmerksam zu machen. Im Interesse der Ruhe und Ordnung dürfte es angebracht sein, wenn die erwähnte Versammlung abgewartet wird, in welcher das weitere auf friedlichem Wege erledigt werden kann." 

Es ging damals ziemlich drunter und drüber im Turnverein "Grundstein zur Einigkeit," der in jenen hektischen Tagen seinem Namen wahrlich keine Ehre machte. Der "Turnerkrieg"von 1910 wurde mit Vehemenz auch in den Spalten der "Windecker Zeitung" ausgetragen, und es dauerte Monate, ehe sich die erhitzten Gemüter wieder einigermaßen beruhigt hatten. Aus den Unterlagen geht hervor, daß Georg Bauscher der sozialdemokratischen "Fraktion" angehörte, die mit allen Mitteln versuchte, den bisher "national gesinnten" Turnverein in das Lager der Arbeiterturnerschaft hinüberzuziehen. Daß diese sich dabei im wahrsten Sinne des Wortes auch "schlagender Argumente" bediente, die zu einer Verurteilung der Schläger durch ein Schöffengericht führte, verdeutlicht, mit welcher Verbissenheit vor dem Ersten Weltkrieg parteipolitische Auseinandersetzungen in den Vereinen ausgetragen wurden. Nach den Prügeleien in der Generalversammlung am 9. Juli herrschte zunächst ein trügerischer Burgfrieden. Am 21. Februar 1912 schickte das Königliche Amtsgericht Windecken folgenden Notiz an Landrat Maximilian Freiherr Laur v. Münchhofen: "Der Turnverein "Grundstein zur Einigkeit" zu Windecken hat seine Eintragung in das Vereinsregister beantragt, wovon ergebenst Nachricht gegeben wird." Daraufhin informierte der Hanauer Kreishauschef Bürgermeister Schlegel über diesen Antrag "mit dem Ersuchen um Äußerung im Sinne § 61 Abs. 2 B.G.Bs" und fragte "Hat der Verein politische Tendenzen? "

Die Sozialdemokraten zog es in die Hochmühle

Bürgermeister Wilhelm Schlegel war über die kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Nidderstädtchen zu beobachtende Politisierung der örtlichen Vereine sichtlich beunruhigt, denn sie führten zu Feindseligkeiten zwischen vielen zuvor befreundeten Familien. Da somit der "innere Friede" in der ehemaligen Residenzstadt der Herren von Hanau erheblich gefährdet war, informierte Schlegel den  Hanauer Landrat umfassend über die Lage. 

Da seine Ausführungen einen anschaulichen Einblick in die damaligen Vorgänge gewähren, wird sein Schreiben nachfolgend im Wortlaut wiedergegeben:

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Die anläßlich der 2. Fahnen-und Turnplatzweihe in Verbindung mit dem Gauturnfest 1950 herausgegebene Festschrift umfaßt nur 16 Seiten, davon sind elf Seiten Geschäftsanzeigen.
Repro: Rolf Hohmann
"Der hiesige Turnverein "Grundstein zur Einigkeit" steht in dringendem Verdacht, daß er unter dem Deckmantel der Turnerei für die sozialdemokratische Partei wirkt. Es fehlen jedoch bis jetzt ausreichende Beweise, um diesen Verein als einen politischen zu erklären. Der genannte Verein war früher in politischer Hinsicht einwandfrei. Er war damals ein Verein, der auf dem Boden der deutschen Turnerschaft stand. Im Jahre 1910 ist der Verein aus dem Turngau Wetterau ausgetreten. Seitdem gehört der Verein keinem Turnerbund an. Im Jahre 1910 entstand im Verein ein großer Streit. Dieser Streit wurde dadurch verursacht, daß die sozialdemokratisch gesinnten Mitglieder des Vereins mit allem Nachdruck die Verlegung des Vereinslokals in die Gastwirtschaft "Zur Hochmühle" verlangten. In dieser Gastwirtschaft ist das Hauptlager der hiesigen Sozialdemokraten, das Militärverbot für diese Wirtschaft besteht schon seit Jahren. Der Antrag auf Verlegung des Vereinslokales wurde in schlauer Weise mit allerlei Beweggründen unterstützt. Der gutgesinnte Teil der Vereinsmitglieder war gegen eine Verlegung des Vereinslokales. Diese Mitglieder sagten sich, daß dem Verlegungsantrag der sozialdemokratische gesinnten Mitglieder ein anderer Beweggrund zugrunde läge und daß die ganze Machenschaft darauf hinausgehen würde, den Verein dereinst in eine freie Turnerschaft umzubilden. In einer Generalversammlung kam es zu Tätlichkeiten zwischen einzelnen Personen. Ein Vorstandsmitglied, welches gegen den Verlegungsantrag war, wurde von den Gegnern körperlich mißhandelt. Die Täter sind vom Schöffengericht bestraft worden. Es kam aber doch soweit, daß das Vereinslokal in die sozialdemokratische Gastwirtschaft "Zur Hochmühle" verlegt wurde." Bürgermeister Schlegel berichtete weiter, daß sich daraufhin die "gutgesinnten" Mitglieder zurückgezogen hätten und bis auf einige wenige mit der Zeit aus dem Turnverein ausgetreten seien. Er fuhr dann fort; "Die noch dabei gebliebenen Mitglieder sind aus geschäftlichen Rücksichten pp. nicht ausgetreten. Die anderen Vereinsmitglieder sind durchweg der sozialdemokratischen Partei zuzuzählen. Die jetzigen Vorstandsmitglieder sind sämtlich Sozialdemokraten, einige davon betätigen sich sogar agitatorisch für die sozialdemokratische Partei. Daß dieselben ihren Einfluß für die sozialdemokratische Partei namentlich bei den Turnerzöglingen geltend machen, ist sicher anzunehmen. Denn sie sind durch die Turnerei und durch die Vereinszusammenkünfte des Turnvereins mit den jungen Turnern in engerer Fühlung und werden sich die Gelegenheit nicht entgehen  lassen, auf diese jungen Leute in sozialdemokratischer Hinsicht einzuwirken. Ob bei der Turnerei und den Vereinsversammlungen des Turnvereins Gespräche geführt werden, welche mit der Sozialdemokratischen Agitation in Verbindung stehen, konnte bis jetzt nicht ermittelt werden. In der Gastwirtschaft "Zur Hochmühle" hat außer dem sozialdemokratischen Wahlverein auch noch die sogenannte freie Sängervereinigung ihr Vereinslokal. Diese Sängervereinigung besteht durchweg aus sozialdemokratisch gesinnten Personen. An den Festlichkeiten dieses Vereins, der als politischer Verein polizeilich nicht erklärt werden konnte, nahm bis jetzt vielfach der Turnverein teil. Mitglieder des Turnvereins gehören auch dieser Sängervereinigung an. Bei dem sozialdemokratischen Wahlverein sind wiederum eine Anzahl Mitglieder, welche sowohl der freien Sängervereingung als auch dem Turnverein angehören. Diese drei Vereine stehens somit in Fühlung miteinander. Bei dem Arbeiterturnfest in Langendiebach im Jahre 1910 haben eine Anzahl Mitglieder des Turnvereins teilgenommen, sie wollten die Vereinsfahne mithaben. Vom damaligen Vereinsvorsitzenden, der zu den gutgesinnten Mitgliedern zählte, wurde ihnen dies verweigert; sie zogen ohne Fahne hin. Bei einer Festlichkeit, die im vorigen Jahr im Garten "Zur Hochmühle" von dem Turnverein abgehalten wurde, soll von den jüngeren Turnern statt "Gut Heil" "Frei Heil" gerufen wurden sein. Auch wünschen diese Turner beim Ankauf von Turngürteln solche, auf denen sich die Bezeichnung "Frei Heil" befindet. Weitere Momente kann ich bis jetzt nicht anführen. Daß der Turnverein sich demnächst dem Arbeiterturnbund anschließen wird, wird nicht ausbleiben, wie es bereits von anderen Turnvereinen mit gleicher Zusammensetzung der Vereinsmitglieder geschehen ist."

Der TV Windecken wird zum politischen Verein erklärt

Die von Bürgermeister Schlegel vorgebrachten Verdachtsmomente reichten jedoch nicht aus, um dem Turnverein "Grundstein zur Einigkeit" Windecken zum "politischen Verein" zu erklären, was viele Einschränkungen zur Folge gehabt hätte. Die Antwort des Landrats erfolgte am 16.April 1912:

"Auf Ihren Bericht vom 21. März habe ich gegen die Eintragung des dortigen Turnvereins "Grundstein zur Einigkeit" ins Vereinseregister mangels Beweise politischer Tendenzen des Vereins gemäß § 61 B .G. B. Bedenken nicht erhoben. Ich beabsichtige jedoch das Verfahren auf Entziehung der Rechtsfähigkeit nach § 43 a.a.O. unverzüglich einzuleiten, sobald sich bestimmte Anhaltspunkte für Betätigung des Vereins auf politischen Gebieten ergeben haben. In diesem Sinne ersuche ich, den Verein andauernd auf das genaueste zu überwachen und mir gegebenenfalls sofort, spätestens aber nach Ablauf eines halben Jahres, Bericht zu erstatten."

Mit der Überwachung wurde Polizeisergeant Weider beauftragt, und am 11. September 1912 meldete Bürgermeister Schlegel nach Hanau: "Der Turnverein "Grundstein zur Einigkeit" hier ist jetzt Mitglied des Arbeiter-Turnerbundes 9. Kreis 4. Bezirk. Auf dem Briefbogen des Vereins ist dieser sogar aufgedruckt. Der Verein hat in diesem Jahr an den Turnerfesten in Dörnigheim und Oberdorfelden teilgenommen." 

Am 1. Oktober 1912 führte Bürgermeister Schlegel mit dem Hanauer Landrat eine Besprechung durch, die noch ohne Folgen für den Turnverein blieb. Das sollte sich wenig später aber ändern. Obwohl Polizeisergeant Weider sicher Ohren und Augen offen hielt, konnte er seinem Bürgermeister keine Anzeichen einer politischen Agitation innerhalb des Turnvereins Windecken melden. Die "Kaisertreuen" waren aber fest entschlossen, den sich in vielen Gemeinden gebildeten Arbeitersportvereinen die Nachwuchsarbeit verbieten zu lassen und ihnen somit die Basis zu entziehen. 

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Im Festprogramm waren neben "Handel¨bungen" auch gemeinsame Freiübungen vorgesehen.
Repro: Rolf Hohmann
Bereits am 7. August 1907 hatte der "Minister der geistlichen, Unterrichts-und Medizinal-Angelegenheiten" in einem Schreiben an alle Landesregierungen, Landräte und Bürgermeister im Deutschen Reich ausgeführt: "Neuerdings mehren sich die Fälle, in denen mir zur Kenntnis gebracht wird, daß die im Arbeiterturnerbund zusammengeschlossenen Turnvereine sich bemühen, sowohl schulpflichtige Kinder als auch schulentlassene jugendliche Personen durch Einrichtung von besonderen Jugendabteilungen heranzuziehen. Es ist allgemein bekannt, daß die gedachten Vereinigungen lediglich den Zweck verfolgen, die jugendlichen Elemente schon frühzeitig mit sozialdemokratischen Ideen zu erfüllen und dadurch ihren späteren Anschluß an die sozialdemokratische Partei zu fördern und vorzubereiten. Es unterliegt keinem Zweifel, daß diesen Bemühungen der sozialdemokratischen Vereine die ernsteste Aufmerksamkeit zugewendet werden muß, und daß den Aufsichtsbehörden die Verpflichtung obliegt, derartige staatsfeindliche Bestrebungen von der Jugend fernzuhalten."

Am 19. Dezember 1913 ging auf dem Windecker Rathaus ein landrätliches Schreiben ein, in dem es eingangs heißt: "Das Oberverwaltungsgericht hat neuerdings dahin entschieden, daß Arbeiterturnvereine lediglich durch ihre Zugehörigleit zum Arbeiterturnerbund, ohne Rücksicht auf die eigene Betätigung des einzelnen Vereins, als politische Vereine im Sinne des Reichsvereinsgesetzes auf sie Anwendung zu finden haben. Danach ist es jetzt Pflicht der Ortspolizeibehörden, diese Vorschriften den dem Arbeiterturnerbund angehörenden Arbeiterturnvereinen gegenüber zur Anwendung zu bringen."

Der Bürgermeister wurde angewiesen, dem Vorsitzenden des Turnvereins "Grundstein zur Einigkeit" 1888 Windecken gegen Unterschrift folgende Verfügung zu übergeben: "Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichtes vom 12. Juni d. Js. gibt mir Veranlassung, den von Ihnen geleiteten Arbeiterturnverein als politischen Verein anzusprechen, demzufolge treffen den Vorstand des Vereins die im § 3 des Reichsvereinsgesetzes vom 19. April 1908 normierten Verpflichtungen." 

Vorgelegt werden sollten innerhalb von 14 Tagen die Vereinssatzung und ein Mitgliederverzeichnis, anderenfalls drohten 50 Mark Geldstrafe oder fünf Tage Haft. Die Verfügung des Landrats wurde dem Vereinsvorsitzenden am letzten Tag des Jahres zugestellt. 

Zögliche hatten in Versammlungen kein Stimmrecht

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Zum Tanz spielte die Kapelle der Freiwilligen Feuerwehr Bruchköbel auf.
Repro: Rolf Hohmann
Worauf es der Obrigkeit vor allem ankam, ging aus dem Begleitschreiben von Bürgermeister Schlegel hervor: "Gleichzeitig weise ich den Vorstand des Vereins noch besonders auf die Bestimmungen des § 17 des Reichsvereinsgesetzes hin, wonach Personen unter 18 Jahren weder Mitglieder eines politischen Vereins sein noch an seinen Versammlungen teilnehmen dürfen. Zu diesen Versammlungen sind auch die regelmäßigen Turnabende des Vereins zu rechnen, denen demnach Jugendliche-auch als Zuschauer-nicht beiwohnen dürfen." 

Der Ausschluß der "Zöglinge" genannten Jugendlichen von allen Vereinsaktivitäten, mußte die Arbeiterturnvereine ins Mark treffen. Offensichtlich regte sich damals gegen die schikanöse Auflage, den Jugendlichen selbst das Zuschauen von Turnübungen zu verbieten, kein Widerstand. Anpassung hieß vielmehr die Parole und am 20. Januar 1914 reichte der Vorstand die neugefaßte Satzung ein. 

Legte der frühere § 6 fest: "Zöglinge sind solche vom 11. bis 18. Lebensjahr, haben aber in der Versammlung kein Stimmrecht,"  so bestimmte gemäß Auflage der neugefaßte Pragraph: "Zum Eintritt in den Verein ist das zurückgelegte achtzehnte Lebensjahr und der Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte erforderlich."

Gleichzeitig waren Name und Anschrift der Vorstandsmitglieder beigefügt: 1. Vorsitzender Johann Georg Bauscher (Hanauer Straße), 2. Vorsitzender Julius Peter Schmalz (Ostheimer Straße), 1. Schriftführer Balthasar Hinkel (Schloßberg), 2. Schriftführer Johann Philipp Graumüller (Ostheimer Straße), 1. Kassierer Wilhelm Heinrich Jost (Ringstraße), 2. Kassierer Wilhelm Heinrich Carl Waas (Neugasse) und Turnwart Wilhelm Schweinsberger (Hintergasse). 

Bürgermeister Wilhelm Schlegel wollte nun dem Turnverein Windecken auch noch die Rechtsfähigkeit aberkennen lassen. Er wurde in diesem Bemühen vom Hanauer Landrat ermuntert, der am 22. Januar 1914 schrieb: "Ihrer Anregung entsprechend wollen Sie die Löschung des Vereins im Vereinsregister gemäß § 43 Abs. 3 des Bürgerlichen Gesetzbuches in Anregung bringen und mir über den Erfolg dieser Anregung bis zum 15. Februar 1914 berichten." 

In seinem am 13. Februar 1914 an das Amtsgericht Windecken gerichteten Antrag wies Bürgermeister Schlegel auf die Verfügung vom 13. Dezember 1913 hin und führte aus: "Der Verein besitzt die Rechtsfähigkeit. Da derselbe nach seinen Satzungen einen politischen Zweck nicht hat, in der Tat aber einen solchen Zweck verfolgt, so bitten wir, dem genannten Verein gemäß § 43 Abs. 3 BGB die Rechtsfähigkeit entziehen zu wollen." 

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Alle diese Jubilare deckt längst der grüne Rasen.
Repro: Rolf Hohmann
Daraufhin bat Amtsrat Fischer Bürgermeister Schlegel am 7. März 1914 zu einer Unterredung auf das Amtsgericht, das auf den Grundmauern der im Dreißigjähren Krieg zerstörten Burg auf dem Schloßberg erbaut wurde. Am 28. März 1914 berichtete Schlegel nach Hanau: "Kgl. Amtsgericht beantragt, dem genannten Turnverein die Rechtsfähigkeit zu entziehen. Das genannte Amtsgericht hält sich jedoch nicht für zuständig und hat auf §§ 44 des Bürgerlichen Gesetzbuches verwiesen. Nach diesem Paragraphen greife vorwiegend des Verwaltungsgerichtverfahren Platz. Die Klage wäre von dem Herrn Landrat zu erheben." Dazu ist es offensichtlich nicht mehr gekommen, denn der Ausbruch des Ersten Weltkriegs brachten für Landrat Freiherr Laur und Bürgermeister Schlegel Sorgen anderen Kalibers. 

Bis zu Beginn des Jahres 1933 sind im Archiv der Stadt Windecken dann keine weiteren geschlossenen Archivalien über die örtlichen Vereine vorhanden; doch schon der Titel der Akte "Neuwahl, Gleichschaltung und Vermögens-Beschlagnahmung sämtlicher Vereine betreffend" kündete von Unheil. Die mit der Wahl Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 31. Januar 1933 an die Macht gelangten Nazis verloren keine Zeit um alle Vereine, die auch nur annähernd in die Nähe von Kommunisten und Sozialdemokraten gerückt werden konnten, entweder "gleichzuschalten" oder zu verbieten. 


An dieser Stelle zunächst einige Anmerkungen zur kommunalpolitischen Situation in Windecken nach der sogenannten Machtübernahme durch die Nationalsozialisten:

Seit 1906 gehörte Jakob (Wilhelm) Dahl (geb. 1872) der SPD-Fraktion an. Am 8. März 1919 wurde der gelernte Zimmermann mit elf gegen eine Stimme zum Stadtverordnetenvorsteher gewählt. Bürgermeister war seit 1907 der parteilose Junggeselle Wilhelm Schlegel, der sein Amt ab 1928 wegen anhaltender Krankheit nur noch sporadisch ausüben konnte. Daraufhin versetzte ihn das Stadtparlament am 31. März 1929 wegen Dienstunfähigkeit einstimmig in den Ruhestand. Völlig mittellos starb Wilhelm Schlegel, der sich um die Stadt Windecken verdient gemacht hatte, am 30. Mai 1930.

Sozialdemokrat Hans Demuth zeigte Rückgrat

Erwartungsgemäß war Jacob Dahl 1929 zum neuen, besoldeten Bürgermeister der Stadt Windecken gewählt worden. Den Vorschriften des Kommunalgesetzes entsprechend, legte er sein Standtverordnetenmandat nieder. Für ihn rückte der Diamantschleifer Hans Demuth nach, der wenige Jahre später, trotz drohender Gefahr für Leib und Leben, Rückgrat bewies und seiner sozialdemokratischen Überzeugung treu blieb. Er setzte seine 1933 unterbrochene kommunalpolitische Laufbahn nach 1945 als Stadtverordneter fort, und war von 1956 bis 1960 ehrenamtlicher Bürgermeister der Stadt Windecken. In der öffentlichen Sitzung vom 10. Mai 1929 vereidigte Landrat Eugen Kaiser den neuen Windecker Bürgermeister im Auftrag des Regierungspräsidenten in Kassel. Jakob Dahl war für zwölf Jahre gewählt, doch die an die Macht gekommenen Nationalsozialisten wollten keinen Sozialdemokraten an der Spitze selbst einer so unbedeutenden Kommune wie Windecken dulden. 

Hier ein Auszug aus dem Protokoll der Stadtverordnetenversammlung vom 30. März 1933: "Bürgermeister Dahl eröffnete in dem mit schwarzweißroten und Hakenkreuzfahnen geschmückten Rathaussaale die Sitzung mit einer Ansprache. Er wies auf die veränderten politischen Verhältnisse hin und brachte ein Hoch auf das deutsche Vaterland aus, in das alle Anwesenden einstimmten." 

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Stolz wird die vom "Kanadier" Henry Loos gestiftete neue Vereinsfahne präsentiert.
Repro: Rolf Hohmann
Während sich sonst kaum öffentlicher Widerstand gegen die bereits massiven Willkürmaßnahmen der braunen Machthaber regte, bewies der SPD-Stadtverordnete Hans Demuth großen persönlichen Mut. Auf der Tagesordnungen der Sitzung am 30. März 1933 stand auch die Wahl der Schuldeputation. Vor der Abstimmung hatte Bürgermeister Jakob Dahl darauf hingewiesen, "daß laut Verordnung zu dieser Kommission keine Vertreter der Linksparteien zugelassen sind."  Die Reaktion des Stadtverordneten Hans Demuth ist im Sitzungsprotokoll festgehalten: "Stdtv. Demuth protestierte gegen diese Maßnahme und verließ im Verlaufe der sich entwickelnden Debatte die Sitzung mit der Erklärung, daß er sein Mandat niederlege." 

Obwohl Bürgermeister Jakob Dahl in jenen hektischen Wochen bemüht war, sich keine Blöße zu geben, hatten es die Nazis mit seiner Entmachtung sehr eilig. Bereits am 8. April 1933 übernahm Bauingenieur Willi Neumeyer aufgrund einer Verfügung der Aufsichtsbehörde vom 7. April mit Zustimnmung des Staatskommissars für den Stadt-und Landkreis Hanau kommissarisch die Amtsgeschäfte. Jakob Dahl übergab ihm das Siegel des Bürgermeisters, der Polizeiverwaltung, des Standesamtes und des Magistrats sowie rund 80 zumeist unerledigte Schriftstücke. 

Im Übergabedokument heißt es abschließend: "Der bisherige Bürgermeister ist sich bewußt, daß er zukünftig nicht mehr amtliche Handlungen als Bürgermeister vornehmen darf."  Mit dieser Zwangabsetzung des für zwölf Jahre gewählten Bürgermeisters endete die lange kommunalpolitische Laufbahn des damals 61jährigen Sozialdemokraten Jakob Dahl sehr abrupt. Trotz dieser Demütigung durch die braunen Machthaber trat Jakob Dahl bereits am 1. Mai 1933 der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter Partei (NSDAP) bei, der er bis zum bitteren Ende angehörte. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands wurde erst im Juni 1933 aufgelöst. Am 28. Juni 1954 verlieh die SPD-dominierte Stadtverordnetenversammlung Jakob Wilhelm Dahl die Ehrenbürgerschaft der Stadt Windecken. Später wurde auf Initiative der Nidderauer SPD-Fraktion im Baugebiet "Am Mühlberg" auch eine Straße nach Jakob Dahl benannt. 

Dies zur Erläuterung der kommunalpolitischen Situation in Windecken nach der Nazi-Machtübernahme und zurück zum Turnverein Grundstein zur Einigkeit" 1888. 


Der TVW 1888 war in Windecken das erste "Gleichschaltungsopfer" der Nazis, denn ihm wurde bereits Ende April 1933 die Mitbenutzung des städtischen Sportplatzes untersagt. Der Vorstand hatte aber offensichtlich den Ernst der Lage noch nicht erkannt, denn er begehrte gegen dieses Verbot mit folgendem Schreiben an den Magistrat auf: "Mit Datum vom 22. April wurde oben bezeichneten Verein mit sofortiger Wirkung der Sportplatz entzogen. Die heute, den 29. April, stattgefundene außerordentliche Generalversammlung nahm mit Bedauern Kenntnis von dieser Maßnahme und beschließt daher, durch die zuständige örtliche Behörde an den Herrn Landrat die Bitte zu richten, dieses Verbot rückgängig zu machen. Der genannte Verein, der sich fast aus lauter älteren Mitgliedern rekrutiert, bedauert es ungemein, und erblickt in dieser Maßnahme eine Entehrung, sind es doch gerade unsere Mitglieder gewesen, die zur Errichtung unserer Gemeindesportplatzes manche unentgeltlichen Arbeiten verrichtet haben zum Nutzen der Allgemeinheit. 15 Mitglieder haben im Weltkrieg ihr Leben gelassen, viele waren verwundet, und 82 Prozent der Mitglieder von 1914 waren Kriegsteilnehmer, soweit diese noch am Leben sind, erwarten dieselben mit der gesamten Mitgliedschaft die Wiederaufhebung des Verbots." 

Unterzeichnet hatten diese Eingabe die beiden Vorsitzenden Hans Demuth und Wilhelm Quillmann, die Kassierer Wilhelm Otto und Leonhard Westphal, die Schriftführer Wilhelm Weider und Friedrich Wörner sowie der technische Leiter Wilhelm Wagner.

Turnverein-Vorstand warf das Handtuch

Doch die braunen Machthaber mochten Verdienste um das Vaterland nicht gelten lassen und so ließ der NSDAP-Ortsgruppenleiter Rudolf Schneider am 10. Mai 1933 :" Betr. Entziehung der Sportplatzbenutzung des Turnvereins "Grundstein zur Einigkeit" dem Magistrat folgende Notiz zugehen: In der Anlage werden die Vorgänge in obigem Betreff mit der Bitte um Entscheidung vorgelegt. Auch ich stehe auf dem Standpunkt, dem genannten Verein die Genehmigug zur Mitbenutzung des Sportplatzes zu entziehen." 

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Aktive und Vorstandsmitglieder des TV Windecken im Juli 1950 vor dem Saal der Hochmühle.
Repro: Rolf Hohmann
In einem Schreiben an alle sportreibenden Vereine der Stadt Windecken informierte der NSDAP-Ortsgruppenleiter die Vorstände über die Ausführungsbestimmungen des neuen Gesetzes: "Der Beauftragte des Staatskommisars für Turnen und Sport in Hanau hat mich beauftragt, die Gleichschaltung Ihres Vereins schnellstens durchzuführen innerhalb 14 Tagen. Es sind dabei folgende Richtlinien zu beachten: 1. Angehörige der jüdischen Rasse und Personen, die sich in der marxistischen Bewegung herausgestellt haben, können kein Vorstandsamt für die Folge bekleiden, 2. Der neue Vorstand muß mindestens 51 Prozent nationalsozialistisch zusammengesetzt sein und ist im Einvernehmen mit dem zuständigen Ortsgruppenleiter der NSDAP zu bilden. Sie werden hiermit ersucht, die namentliche Zusammensetzung des neuen Vorstandes unter Beifügung der Zustimmung der Ortsgruppenleiters der NSDAP hier vorzulegen. Sollte Ihr Verein die gestellten Bedingungen überhaupt nicht oder nicht genügend erfüllen, hat Ihr Verein die sich ergebenden Weiterungen zu erwarten." 

In der für den 5. Mai 1933 einberufenen Mitgliederversammlung sollte versucht werden, die erpresserischen Auflagen zu erfüllen. Der amtierende Vorstand sah jedoch angesichts der neuen politischen Lage keine Zukunftsperspektiven mehr und in der außerordentlichen Mitgliederversammlung stellte er sich geschlossen nicht wieder zur Wahl. Es gelang am 5. Mai zwar, den Vorsitzenden und 2. Schriftführer zu wählen, die der NSDAP angehörten, doch der 2. Vorsitzende Karl Vollbrecht, der 2. Kassierer Konrad Werth und der technische Leiter Hermann Quillmann waren parteilos. Mit diesem nur leicht "angebräunten" Vorstand konnte der Turnverein "Grundstein zur Einigkeit" bei den neuen Machthabern keinen Staat machen, und so nahmen die Dinge ihren vorgezeichneten Lauf. 

Am 10. Mai 1933 erging an den Vorstand folgende Aufforderung: "Aufgrund einer Verordnung des Herrn Staatskommissars für Turnen und Sport ist bis zum 12. des Monats eine Bilanz über das Vermögen Ihres Vereins vorzulegen." Bereits am nächsten Tag kam der neue Vorsitzende dem ultimativen Verlagen nach und am 16. Mai 1933 wurde das bewegliche Vermögen des Turnvereins "Grundstein zur Einigkeit" 1888 Windecken von den Nazis beschlagnahmt. Außerdem verbrannten die neuen Machthaber die Traditionsfahne von 1900 "bei Nacht und Nebel" (Festschrift). Kurz zuvor waren die Bezirke des 9. Kreises im Arbeiter,-Turn-und Sportbund dem drohenden Verbot durch Selbstauflösung zuvorgekommen und hatten Konkurs angemeldet. Am 18. Mai 1933 teilte der kommissarische Landrat Löser dem Verein kurz und bündig mit: "Eine Weiterbenutzung des von der dortigen Stadtverwaltung zur Verfügung gestellten Sportplatzes kommt zur Zeit nicht in Frage."

Mit deutschem Gruß Heil Hitler

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Die Damen waren 1950 im TV Windecken stark vertreten.
Repro: Rolf Hohmann
Bereits am 17. Mai 1933 war der Turnverein Windecken an noch bestehende Verpflichtungen erinnert worden. Für den Bezug der Zeitung "Freier Sport" stand man mit 51,85 Reichsmark in der Kreide, und außerdem betrugen die Warenschulden 4,55 RM. Zum Treuhänder des dem Arbeiter,-Turn-und Sportbunds gehörenden Arbeiter-Turnverlags war Rechtsanwalt Dr. Wiebold (Leipzig) bestellt worden. 

Er versandte am 24. Mai 1933 ein Rundschreiben, das auch der TV Windecken erhielt: "Wie ich festgestellt habe, ist die erste Meldeliste 1933 trotz Aufforderung des Arbeiter,- Turn- und Sportbundes von Ihnen bis heute nicht eingegangen. Die Vorlage dieser Liste Ihrerseits ist bereits am 15.1.1933 fällig gewesen. Ich ersuche Sie deshalb hier mit dem Zwecke der Feststellung des von Ihnen zu entrichtenden Beitrags das beiliegende Formular ausgefüllt und unterschriftlich vollzogen mir innerhalb 3 Tagen nach Erhalt dieses Rundschreibens zu übersenden. Ich weise ausdrücklich darauf hin, daß Sie nach den Bundes-Statuten hierzu verpflichtet sind." 

Als der Turnverein nicht reagierte, wandte sich der Treuhänder an die Ortspolizeibehörde von Windecken: "Der Arbeiter-Turnverein Grundstein zur Einigkeit schuldet meiner Treuhandmasse nach den hiesigen Feststellungen an Bundesbeitrag, Kinderversicherung, Mitgliedsbücher-, Waren- und Zeitungslieferungen den Betrag von RM 46,14." Dr. Wiebold bat weiter um Auskunft, ob das Vereinsvermögen beschlagnahmt und ob eventuell ein gerichtlicher Pfleger zur Abwicklung des Verfahrens bestellt worden sei. Am 19. August 1933 teilte der Treuhänder dem Turnverein Windecken mit, daß er über die Beschlagnahme des Vereinsvermögens informiert wurde. Er habe im Staatsinteresse zu handeln und bitte um Begleichung der Geldforderung. Waren die beiden vorangegangenen Schreiben noch mit einem konventionellen "Hochachtungsvoll" beendet worden, verblieb Dr. jur. Gerd Wiebold von jetzt an "Mit deutschem Gruß Heil Hitler !" 

Ein halbes Jahr nach der sogenannten Machtergreifung hatten sich die Nazis in allen Lebenbereichen fest etabliert. 

Nochmals zurück zu den Auswirkungen des Gleichschaltungsgesetzes für die Windecker Vereine. Da bis zum 15. Mai 1933 die NSDAP-Ortsgruppe "Vollzugsmeldung" zu erstatten hatte, beriefen auch die anderen Sportvereine kurzfristig außerordentliche Generalversammlungen ein. Der zehnköpfige Vorstand des Fußballclubs "Eintracht" erfüllte die Auflagen, obwohl 1. Vorsitzender Philipp Weider, 2. Vorsitzender Karl Dahl und der 1. Schriftführer Heinrich Strempel parteilos waren und der 1. Kassierer nur dem "Kampfbund" angehörte. Ebenfalls am 8. Mai 1933 wählte der Schützenclub Windecken einen neuen Vorstand. Vorsitzender wurde H. Basse und 2. Schützenmeister Karl Vollbrecht, beide parteilos, die übrigen drei Vorstandsmitglieder waren NSDAP-Mitglieder. Der Sportclub Windecken ließ sich nicht so leicht gleichschalten, obwohl er die "nationale Karte" spielte. Schriftführer Ernst Demuth sandte am 9. Mai 1933 folgendes Schreiben an den Ortsgruppenleiter ab: "Bei der am 8. Mai 33 stattgefundenen Versammlung, in welcher der Gesamtvorstand sein Amt niederlegte, wurden folgende Herren zum provisorischen Leiter des Vereins bestimmt, bis die Gleichschaltung aller Vereine erfolgt: Heinrich Jost, Glaser, Hanauer Landstraße, Heinrich Reinheimer, Horst-Wessel-Ring, Ernst Demuth, Pflücksburgerhof 1. Die Herren gehören keiner Partei an und stellen sich voll und ganz hinter die Anordnungen der Regierung, für ein einiges Deutschland aller Schichten und Klassen." 

Aus diesem Schreiben spricht bereits die Angst vor drohenden Repressalien und es ist doch erstaunlich, in welch kurzer Zeit es den Nazis gelang, aus demokratisch gesinnten Bürgern Duckmäuser zu machen. 

Turnverein Jahn meldete schnell Vollzug

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Die neue Vereinsfahne war beim Fest 1950 das am meisten fotografierte Objekt.
Repro: Rolf Hohmann
Mit "vollen Segeln" und nach dem mißverstandenen Motto des Turnvaters "Frisch, fromm, fröhlich, frei" lief damals der Turnverein Jahn in den Hafen des propagierten "Tausendjährigen Reichs" ein. Der Vorsitzende brüstete sich in seinem Schreiben vom 9. Mai 1933 in den NSDAP-Ortsgruppenleiter: "In Erledigung Ihrer Anordnung vom 5. Mai 33 beehren wird uns Ihnen mitzuteilen, daß die derzeitige Zusamensetzung eine Gleichschaltung nicht bedingt, da unser Vorstand ca. 90 Prozent nationalsozialistisch eingestellt ist. Angehörige der jüdischen Rasse und Personen, die sich in der marxistischen Bewegung herausgestellt haben, bekleiden ein Vorstandsamt nicht. Marxisten sind überhaupt keine im Verein." 

Im 13köpfigen Gesamtvorstand gehörten zwölf Mitglieder der NSDAP oder einer Unterorganisation an; ledig der 1. Schriftführer Karl Fischer und der 1. Zeugwart Alfred Menzel waren parteilos. In dem Schreiben des Vorsitzenden heißt es weiter: "Sollte selbst nur der engere Vorstand in Frage kommen, so besteht nach wie vor eine 51- prozentige nationalsozialistische Zuammensetzung. Wir bitten bei dieser Gelegenheit davon Kenntnis zu nehmen, daß inzwischen Anordnungen von seiten unserer vorgesetzten Turnbehörde zwecks Gleichschaltung ergangen sind, die bis spätestens 1. Juni durchgeführt werden müssen. Die Anordnungen basieren auf dem Führerprinzip der NSDAP. Der Vorstand des Vereins hat bereits dazu Stellung genommen und schlägt den unterzeichneten bisherigen 1. Vorsitzenden auch als Führer des Vereins für die Zukunft der vorgesetzten Turnbehörde vor. Die Richtlinien der Deutschen Turnerschaft über die Gleichschaltung sind im übrigen dem Ortsgruppenleiter durch seine Zugehörigkeit zu unserem Vereinsvorstand bekannt." 

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Der 1913 gegründete Spielannszug des TV Windecken bestand bis 1965.
Repro: Rolf Hohmann
Neben der Angst vor Repressalien war die Anbiederung an die neuen Machthaber ein weiteres hervorstechendes Merkmal der damaligen politischen Wende in fast allen Lebenbereichen. Der Ortsgruppenleiter bekleidete im Turnverein "Jahn" Windecken übrigens lediglich das völlig unbedeutende Amt eines 2. Schriftführers. Obwohl die Nazis am 16. Mai 1933 das Vermögen des Turnvereins "Grundstein zur Einigkeit" 1888, der dem als marxistisch eingestuften Arbeiter-Turn-und Sportbund angehörte, beschlagnahmt hatten, wurde kein offizielles Verbot ausgesprochen. Doch mit der Enteignung hatte der Verein faktisch aufgehört zu existieren, denn ihm waren die Grundlagen für eine sinnvolle Tätigkeit entzogen worden. 

Die braunen Machthaber ließen aber keinen Zweifel daran, daß sie der Arbeiterbewegung in ihrem "Dritten Reich" den Garaus machen wollten. In der am 23. Juni 1933 vom Innenminister erlassenen Verordnung betreffend "Neuaufbau der deutschen Sportorganisationen" heißt es einleitend: "Der Reichssportkommissar hat die grundsätzlichen Richtlinien bereits am 24. Mai seinen Beauftragten übergeben und in der Presse veröffentlicht. Zu dieser Durchführung ist vor allem die endgültige Liquidierung des Arbeitersports nach folgenden Gesichtspunkten erforderlich." 

Bezüglich der Gesamtverbände wurde ausgführt: "Nach dem großen Umbruch zu einer einzigen Volksgemeinschaft, der sich in den letzten Monaten vollzogen hat, ist für gesellschaftlich und klassenmäßig umgrenzte Verbände und Vereine kein Platz mehr im deutschen Sport." Und an anderer Stelle: "Der Reichssportkommissar wird jetzt die Auflösung der angeschlossenen Fachverbände und ihrer Unterorganisationen betreiben, soweit sie in den einzelnen Ländern nicht bereits verboten und aufgelöst sind. Eines besonderen Gesetzes bedarf es nicht. Sollten einzelne Organisationen den Wünschen des Reichssportkommissars nicht umgehend nachkommen, so ist anzunehmen, daß sie sich nicht den Zielen der Regierung anschließen wollen, also staatsfeindlichen Bestrebungen nachgehen. Es muß dann ein Verbot auf Grund der Verordnung zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 erfolgen,." 

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Beim Festumzug stand die neue Fahne im Mittelpunkt.
Repro: Rolf Hohmann
Die mit unverhüllten Drohungen gespickte Verordnung legte auch fest, wie mit den örtlichen Arbeitersportvereinen zu verfahren war: "Bei vorläufiger Stillegung steht nach Erfüllung der obigen Voraussetzungen einer Wiederaufnahme desselben nichts um Wege." Als Hauptvoraussetzung für eine Wiederzulassung mußte die sogenannte Gleichschaltung erfolgt sein, die dem Turnverein Windecken, wie berichtet, jedoch nicht gelang. Für das Überwechseln von Mitgliedern aus Arbeitersportvereinen in solche, die den Nazis genehm erschienen, wurde eine Sperrfrist bis zum 1. Oktober 1933 verfügt. Beim Turnverein Windecken waren von der Beschlagnahmeaktion im Mai 1933 nur das Grundstück und die im Saal der Vereinsgaststätte Lebeau befindlichen Gegenstände betroffen. Den örtlichen Braunhemden war zunächst entgangen, daß der Verein in einer Baracke auf dem Sportplatz, dessen Benutzung den Windecker Arbeiterturnern bereits am 22. April 1933 untersagt wurde,  noch zahlreiche Sportgeräte aufbewahrte. Doch das Versäumte holten sie am 26. September 1933 nach. Dem von Feldhüter Westphal angefertigten Verzeichnis zufolge befanden sich unter den beschlagnahmten Geräten und anderen Gegenständen je zwei Recks, Barren, Sprungständer und Bambusstangen, ein Diskus, ein Galgen für Kletterseile, sechs Eckfahnen für Faustball, ein Bandmaß, 16 Nummernschilder sowie je sechs Hanteln und Schleuderkugeln. Dieses Verzeichnis beweist, daß im Turnverein "Grundstein zur Einigkeit" Windecken viele Sportarten betrieben wurden.

Nazi-Schuß vor den Bug saß

Am 20. Oktober 1933 forderte Landrat Löser den amtierenden Windecker Bürgermeister auf, nähere Angaben über beschlagnahmte Grundstücke aus Vereinsbesitz nach Hanau zu melden. Betroffen von dieser Anordnung war nur der Arbeiter-Turnverein und der Landrat erfuhr: "Das Grundstück wird zur Zeit von mehreren Leuten als Grabland benutzt zu einer Jahrespacht von 20,50 RM, die jedoch 1933 nicht zur Erhebung kommt. Das Grundstück war ursprünlich für einen Bauplatz für ein Volkshaus vorgesehen. Ich glaube nicht, daß irgendein nationaler Verband Interesse an dem Erwerb des Grundstücks hat." 

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Die Damen-Turngruppe des TV Windecken.
Repro: Rolf Hohmann
Trotzdem forderte der Landrat den Windecker Bürgermeister am 17. November 1933 auf, sich darüber zu äußern, "ob nicht ein Käufer für das Grundstück vorhanden ist." Der amtliche Enteignungsbeschluß des Regierungspräsidenten erfolgte am 18. Januar 1934. Nach Aufzählung der diesem Enteignungsbeschluß zugrundliegenden Nazi-Gesetze heißt es: "....werden folgene Grundstücke zu Gunsten des Landes Preußen enteignet, da sie der Förderung volks-und staatsfeindlicher Bestrebungen gedient haben." Bereits am 6. Februar 1934 meldete sich Landrat Löser im Windecker Rathaus: "Ich ersuche um Bericht, aus welchem Grunde die Pacht für 1933 nicht erhoben wird. Sofern vertragsmäßig auch für 1933 die Pacht zu zahlen ist, ersuche ich, den Pachtvertrag einzuziehen und ihn der Regierungshauptkasse abzuführen." 

Als sich die Windecker Stadtverwaltung daraufhin in Schweigen hüllte, stellte Landrat Löser am 20. Februar 1934 folgendes Ultimatum: "Ich ersuche, meine Verfügung vom 6.d.Mts. Betr. Enteignung des Grundstücke des Turnvereins "Grundstein zur Einigkeit" innerhalb 48 Stunden zu erledigen." 

Nun künden viele Archivalien davon, daß sich die Windecker Stadtväter seit Urzeiten gegenüber der jeweiligen Obrigkeit in vielen Angelegenheiten recht störrisch zeigten. Von gräflichen, kurfürstlichen und kaiserlichen Räten sowie republikanischen Regierungsbeamten wurden sie zwar öfters zur Ordnung gerufen, doch größeres Ungemach drohte ihnen nicht. Doch es hatte sich Anfang 1934 längst herumgesprochen, daß die Nazis der "Widerspenstigen Zähmung" mit weit rigeroseren Mitteln betrieben. Besonders der Hanauer Landrat Löser war als unnachsichtiger Vollstrecker seiner vielen Anordnungen berüchtigt. Deshalb saß sein "Schuß vor den Bug" und der Windecker Bürgermeister beeilte sich nun, die gewünschten Abgaben nach Hanau zu übermitteln: "Unter Bezugnahme auf vorstehende Verfügung wird berichtet, daß das Grundstück in 3 Grabstücke und 2 Kleestücke eingeteilt ist. Die Jahrespacht für die Grabstücke beträgt 20,50 Mk. Der Vorstand des ehem. Turnvereins "Grundstein zur Einigkeit" hat jedoch für das erste Pachtjahr, das am 1. Oktober 1932 begonnen hat, die Pacht erlassen, weil die jetzigen Pächter der Grabstücke dieselben auch urbar gemacht haben. Für das lfd. Pachtjahr sollte jedoch nur die Hälfte der jährlichen Pacht gezahlt werden." 

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Der ehemalige Sportplatz des TV Windecken an der B 45 (links). Auf diesem Areal wurde die Schloßberghalle erbaut.
Repro: Rolf Hohmann
Die Überweisung des halben Pachtgeldes an die Regierungshauptkasse in Kassel erfolgte am 11. April 1934. Aus dem erhalten gebliebenen Postscheck-Einzahlungsbeleg geht hervor, daß die Pächter Graumüller und Wägele je 5 RM zu zahlen hatten. Am 29. August 1934 erreichte den Magistrat der Stadt Windecken die "Mitteilung über Eigentumswechsel ungeteilter Besitzungen behufs anderweitiger Steuererhebung." In der Staatssteuerrolle hatte das Grundstück des verbotenen TV Windecken die Nummer 424 erhalten und da es keinen Käufer fand, blieb es bis zum Ende des "1000jährigen Reiches" im Besitz des Landes Preußen. Als der braune Spuk 1945 vorüber war, erhielt der Turnverein "Grundstein zur Einigkeit" 1888 sein Eigentum wieder zurück. 

Auf dem Areal, auf dem nach dem Willen der Arbeitersportler ein "Volkshaus" entstehen sollte, baute die Stadt Nidderau ein halbes Jahrhundert nach den Vorgängen der Jahre 1933/34 die Schloßberghalle, die später den Namen Willi-Salzmann-Halle erhielt. Damit hatte sich der Kreis geschlossen.-

Neben den Sportvereinen waren natürlich auch die Gesangsvereine vom Gleichschaltungsgesetz der neuen Machthaber betroffen. Darüber berichten wir in einem weiteren Beitrag.


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