Nulla dies sine linea
Geschichtsverein Windecken 2000
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Der Wartbaum bei Windecken
Ein Elfjähriger schildert seine Erlebnisse beim großen Kaisermanöver
Von Rolf Hohmann

In vielen alteingessenen Windecker Familien lebt die Erinnerung an das Große Kaisermanöver von 1897 fort. Es müssen aufregende Tage in dem sonst so geruhsamen Landstädtchen gewesen sein, als im Gefolge des Kaisers Wilhelm II. deutsche Fürsten und hohe ausländische Gäste sich im Bannkreis des Wartbaums aufhielten, um von dieser Höhe aus den Beginn des großen Kriegsspiels zu verfolgen.

Pfarrer Carl Henß hat in seinem Bändchen »Ein historischer Baum im Hanauer Land« (1909) dem Kaisermanöver ein Kapitel gewidmet. Wir zitieren aus der uns vorliegenden Urfassung:



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Blick von der Wartbaumhöhe auf Windecken um 1850. Stahlstich von L. Thümling nach einer Zeichnung von C. Köhler.
Repro: Rolf Hohmann
»Den Kriegs- und Friedensbildern, die am Windecker Wartbäumchen vor unserem Auge aus der Vergangenheit auftauchen, reihen wir noch eines aus der jüngsten Zeit an, das Kaisermanöver vom Jahre 1897, das in der militärischen Geschichte unseres Volkes bisher einzigartig dasteht: war es doch das erste Mal, daß norddeutsche und süddeutsche Truppen, Preußen, Hessen und Bayern im Wettstreite miteinander unter den Augen ihres obersten Kriegsherrn Proben ihrer Leistungsfähigkeit und Kriegstüchtigkeit ablegten. In den ersten beiden Manövertagen, am 6. und 7. September, sah der Wartbaum eine Menge hervorragender Fürstlichkeiten, Heerführern und fremdherrlichen Offizieren: den Kaiser und die Kaiserin von Deutschland, den König von Sachsen, den König und die Königin von Italien, den Großherzog und die Großherzogin von Hessen, den Prinzregenten Luitpold von Bayern, den Oberbefehlshaber der bayerischen Truppen Prinzen Leopold, sowie den Prinzen Rupprecht von Bayern, den Bayerischen Kriegsminister Freiherrn von Asch, die kommandierenden Generäle des 16. und 11. preußischen Armeekorps, Grafen von Häseler und von Wittich, den Großfürsten Nikolaus Nicolajewitsch von Rußland, ferner Vertreter der russischen, österreichischen, französischen, englischen, italienischen, türkischen und sogar japanischen Armee; sie alle haben unter dem Wartbaum gehalten und seine historischen Erinnerungen um eine der interessantesten und    wertvollsten bereichert. Für die Bayern besonders, die am 7. September die Höhe des Wartbaums nahmen, war die Gegend um Hanau, die sie von hier aus übersehen konnten, historischer Boden: Dort haben ihre Vorfahren unter dem Feldmarschall Fürsten Wrede mit dem ersten Napoleon gerungen, als dieser durch die Völkerschlacht bei Leipzig gezwungen wurde, den Weg zum Rhein zu nehmen«.



Friedel Kurz erinnert sich an das Kaisermanöver

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Mechanikermeister Friedel Kurz in hohem Alter
Der Windecker Mechanikermeister Friedrich (Friedel) Kurz war von Jugend auf ein vielseitig interessierter Mann. Er fand als selbständiger Handwerker genügend Zeit, viele Gedankengänge aufzuzeichnen und er hinterließ eine beachtliche Anzahl von Gedichten. Friedel Kurz hatte im Laufe der Zeit zahlreiche Zeitschriften abonniert, die er alle sammelte. Beginnend von der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg häuften sich so Berge von bedrucktem Papier an. Diese Sammelleidenschaft hat sich auf seinen Sohn Heinrich vererbt, der den schriftlichen Nachlass seines Vaters und seine Sammlung dem Geschichtsverein Windecken übereignete. Der größte Teil ist in die 1993 der Stadt Nidderau von Rolf Hohmann gewidmeten Schenkung eingeordnet worden, die in einem gesonderten Raum im Nidderauer Rathaus aufbewahrt wird. Nachdem er das 60. Lebensjahr überschritten hatte, begann Friedel Kurz seine Lebenserinnerungen nieder zu schreiben. Sie sind allein vom Umfang her und vor allem wegen ihrer Detailgenauigkeit eine wertvolle Quelle für den Lokalhistoriker. Friedel Kurz hat als Elfjähriger 1897 das großer Kaisermanöver mit erlebt  und sie in seinen Lebenserinnerungen nieder geschrieben. Wir veröffentlichen seinen Erlebnisbericht nachfolgend im Wortlaut:



Das Knattern von tausend Gewehren

»Das Jahr 1897 sah hier das große Kaisermanöver bei dem das 3. bayrische und 3. preußische Armeekorps aufmarschiert waren. Die Hauptübungen fanden in unmittelbarer Nähe statt. Die Herbstferien hatten noch nicht begonnen, da erschienen an einem Vormittag hinter der Stadt, grad der Schule gegenüber Soldaten. Dann fuhr die Artillerie auf, über die Äcker hinweg, als ob da kein Weg sei. Der Lehrer besann sich nicht lange und schickte uns alle weg. Was hätte auch das Unterrichten noch für einen Zweck gehabt. Die anderen Klassen hatten es nicht so eilig. An Essen dachte zunächst keiner der hinausstrebte. Wir kamen bis vor Hanau, überall eine unübersehbare Masse Soldaten, aber auch Schlachtenbummler. Im Nu gab es kein Bier, keine Zigaretten mehr. Kein Metzger, kein Bäcker der noch was Eßbares vorrätig hatte. Wir aßen Äpfel und brachten diese Frucht unseren Freunden, den Soldaten, die selbst die Bäume nicht zu plündern wagten. Wir erlebten Kavallerieattacken, hörten zum ersten Mal Geschützfeuer und das Knattern von tausend Gewehren. Wer dachte da noch an die Schule. Am nächsten Tag mußten wir aber wieder dort erscheinen. Unserem Lehrer, der ein Freigeist war, wurde sein Verhalten in dieser Angelegenheit krumm genommen. Er freute sich jedoch mit uns über das Erlebnis.

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Motiv-Postkarte vom Kaisermanöver, die am 6.September 1897 vom Postamt Hochstadt abgeschickt wurde.
Repro: Rolf Hohmann
Drei Tage ging die Sache gut. Die Bayern hatten die Preußen weit zurückgetrieben, da kam ein Dauerregen und eine Armee bezog Notquartiere. Sieben Stunden saß der alte Graf Haeseler auf seinem Pferd vor dem Rathaus beim Zurückmarsch seiner Truppen im dicksten Regen. Man sagte, er habe eine silberne Rippe. Ich sah ihn auch etwas seitlich geduckt auf seinem Pferde sitzen. Das waren ereignisreiche Wochen für uns Jungen. Wir holten in den Orten wo man noch etwas kaufen konnte, Zigarren und Branntwein und brachten es ins Feld zu den Soldaten, die uns das Geld dazu gegeben hatten. Es gab Magazine in großen Zelten. Die armen Leute hatten auf einmal Brot genug. Kommißbrote, länglich eckige von den Preußen und runde, mit Kümmel darin von den Bayern. An den Biwakplätzen lagen die Konservenbüchsen zu Tausenden am Boden. Das Fleisch, das in den Erbsen und Bohnen mitgekocht war, hatten die Soldaten herausgefischt und die Büchsen liegen lassen. Mit Wagen fuhren sie die Bauern zusammen um sie für die Schweine auszukochen. Vielen Schweinen bekam das schlecht und sie segneten vorzeitig das Zeitliche. Die Messinghülsen der Patronen, teils abgeschossen, teils noch mit den roten Holzstopfen, lagen haufenweise im Feld herum. Niemand hatte etwas dagegen, daß wir sie sammelten und als Altmaterial verkauften. Aus den Kanonen waren beim Abschuß jedesmal ein Bündel etwa 30 cm lange dünne Holzstäbchen herausgeschleudert worden. Da war es eigentlich gefährlich beim Schuß vor die Mündung zu geraten. Man hat jedoch nichts von Unfällen durch diese erfahren.

An vielen Stellen waren Brücken über den Fluß geschlagen worden und für uns war es ein großes Vergnügen da hinüberzugelangen. Schließlich geriet ich mit den Soldaten, zuletzt mit der bayerischen Artillerie, weit ab von zu Hause. Der Empfang daheim war dann auch danach. Im Herbst half ich bei dem Müller mit dem elektrischen Licht bei der Kartoffelernte. Große Strecken Ackerland waren zusammengestampft. Über weite Strecken zogen die Wege der Infantrieregimenter quer über die Kartoffel- und Rübenäcker. Fest wie ein Stein waren diese Spuren. Auch wo sich die Zivilisten aufgestellt hatten brauchte man kaum noch nach Feldfrüchten zu suchen. Kommissionen schätzten den Schaden ab und mancher kam bei der Entschädigung auf seine Kosten, mancher aber nicht.«



So weit die Erlebnisse des elfjährigen Friedel Kurz beim großen Kaisermanöver von 1897.

50 Reichspfennige für die Reinigung eines Gefangenen

In der allgemein zugänglichen Literatur gibt es kaum nähere Angaben darüber, welche Truppeneinheiten in jenen Septembertagen des Jahres 1897 im nördlichen Hanauer Land am großen Manöver teilnahmen und welche Kosten dem Steuerzahler durch dieses gewaltige Kriegsspiel entstanden.. Die »Windecker Stadt-Kämmerei-Bürger-Kassen-Rechnung für das Etat-Jahr 1897/98« enthält hierzu nähere Angaben. Alle Vergütungen für Einquartierungen, Verpflegung, Fouragelieferungen, Vorspanndienste, Pferdefutter, Stallmieten usw. mußten vom Militär zunächst an die Stadtkasse überwiesen werden. Die Auszahlung der genau festgelegten Beträge erfolgte dann durch den Stadtkämmerer Schmalz. So wurden »Johs. Vollbrecht II und Genossen« immerhin Verpflegungs- und Quartiergelder in Höhe von 1571 Reichsmark ausbezahlt. Bürgermeister Reul erhielt damals ein Jahresgehalt von 1275 RM, Stadtkämmerer Schmalz 537 RM und Stadtschreiber Zimmermann 514 RM. Für geleisteten Vorspann im Manöver mußten Heinrich Vetter & Genossen 672 RM vergütet werden. Der Gefangenenaufseher Marschall erhielt »für die Reinigung eines Gefangenen« 50 Reichspfennige Aufwandsentschädigung. Bürgermeister Reul und einige Stadtverordnete stellten für die Abschätzung der angerichteten Flurschäden 87 RM 75 Pfg in Rechnung. Die Summe der Einnahmen aus allen Serviceleistungen Windecker Bürger für die am Kaisermanöver beteiligten Truppen belief sich auf 28.182 Reichsmark und 9 Pfennige.

Folgende Militäreinheiten waren in Windecken einquartiert oder nahmen »Service-Leistungen« in Anspruch:
  • 1. reitende Batterie des Hessischen Feldartillerie-Regiments No. 11 in Kassel
  • Dragoner-Regiment No. 6,
  • 1. Bataillon des thüringischen Infanterie-Regiments No. 32 in Meiningen
  • 1. Bataillon des Infanterie-Regiments No. 168
  • 2. Bataillon des Infanterie-Regiments No. 166 in Hanau
  • Dragoner-Regiment No. 23 in Darmstadt
  • 1. Bataillon des Infanterie-Regiments No. 161 in Köln
  • 2. Ulanen-Regiment in Ansbach
  • 1. Bayerisches Schevanlegers-Regiment
Der Windecker Stadtkämmerer war in gleicher Sache auch für die dem Großherzogtum Hessen-Darmstadt zugehörige Nachbargemeinde Heldenbergen zuständig. Hier waren bereits am 14. und 15. August 1897 Angehörige der 1. fahrenden Batterie des Regiments-No. 25 einquartiert. Ihnen folgten in den nächsten drei Wochen unter anderem Soldaten der 5. fahrenden Batterie und das 2. Bataillon des Regiments No. 11, verschiedene Truppenteile der 37. Division, des Eisenbahnregiments No. 8, des II. Bayerischen Armeekorps, des XI. Armeekorps, der 1. fahrenden Batterie des Artillerie-Regiments No. 25, der 5. fahrenden Batterie des Artillerie-Regiments No. 11 und des 2. Bataillons des Regiments No. 94.

Allein Georg Goy II. & Konsorten standen für verschiedene Dienstleistungen und Einquartierungsgelder 961 Reichsmark zu. Die Gesamtentschädigung der Gemeinde Heldenbergen belief sich auf 113.790,89 Reichsmark. Die Großherzogliche Distriktseinnehmerei Nieder-Wöllstadt mußte allein 50.601,22 Reichsmark für die angerichteten Flurschäden an die Gemeindekasse Heldenbergen überweisen.

Dagegen würde man heute die 40 Reichspfennige, die Michel Braun »für Docht und Petroleum für die Wache« ausbezahlt wurden, als Peanuts bezeichnen. 

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