Windecken, Ende Juli 1881. Glocken sollen heute gegossen werden, ein
größeres Geläute, draußen im Gießhaus vor dem
Kilianstädter Tor. Kein Prachtbau, eine scheuerähnliche Halle,
mit dem aus feuerfesten Backsteinen gemauerten Gießofen. Vor ihm
befindet sich die Dammgrube, vier auf fünf Meter groß und zwei
Meter tief. Vier Glockenformen sind gußbereit in ihr vergraben.
Nur Lehmröhren ragen aus der Erde hervor. Windpfeifen heißen
sie, weil sie beim Guß die Luft aus der Form entweichen lassen. Ein
Kanal aus Stein und Lehm verbindet die Formen mit dem Gußofen. Seit
dem frühen Morgen wird er stark geheizt, um die aus 4/5 Kupfer und
1/5 Zinn bestehende, rund neunzig Zentner schwere, Metallmasse zu
schmelzen.
Wir haben unterdessen genügend Zeit, uns über die vorausgegangenen
Vorbereitungsarbeiten zu unterhalten, die vor etwa acht Wochen begannen.
Das Entwerfen des Glockenprofils, Schablone oder auch Rippe genannt, ist
die grundlegende und daher auch wichtigste Aufgabe. Von ihr hängt
in erster Linie der reine Ton der zu gießenden Glocke ab. Damit aber
auch das gesamte Geläute melodisch und harmonisch zuzsammenklingt,
muß dieser Ton gleichzeitig mit dem Klang der Schwesterglocken in
richtigem Verhältnis stehen. Eine schwere Aufgabe!
Für jede Glocke ist nun eine besondere Schablone zu entwerfen.
Maßgebend dafür ist die Klanghöhe, die ihrerseits bedingt
wird durch die Glockendichte am Schlagrand. Also an der Stelle, wo beim
Läuten der Klöppel den Hauptton erzeugt. Die größte
Schwierigkeit bereitet aber die Reinheit der Nebentöne. So muß
beim ersten Drittel der Glockenhöhe die Terz, beim zweiten die Quinte
und beim dritten Drittel die Oktave als Nebenton mitklingen.
Das Glockenprofil beruht also auf mathematisch genauer Berechnung. Jede
Gießerei verwendet ihre eigene Rippe und die dadurch entstehende
Glockenform ist somit ein unverwechselbares Markenzeichen. Die Konturen
der äußeren und inneren Glockenwand werden auf ein vier Zentimeter
starkes Buchenbrett gezeichnet. Der Innenwand entsprechend wird das Brett
ausgeschnitten und an einer Spindel drehbar befestigt. Die Glockenform
besteht aus drei übereinander liegenden Teilen: dem Kern, dem Glockenhemd
und dem Mantel. Die Krone wird separat geformt.
Zuerst baut der Glockengießer den Kern der Glockenform aus Steinen
auf, wobei mit schichtweise dünn aufgetragenem Lehm vorhandene Unebenheiten
ausgeglichen werden. Jeder Lehmschicht muß langsam an der Luft
trocknen. Ein leichtes Braunkohlefeuer beschleunigt diesen Vorgang. Dabei
muß aber streng darauf geachtet werden, daß in den aufgetragenen
Lehmschichten keine Risse entstehen. Selbst kleinste Sprünge müssen
sofort ausgebessert werden. Haben die jeweils durchgetrockneten Lehmschichten,
die von der Schablone vorgegebene Stärke erreicht, wird die Oberfläche
mit einer aus fein gesiebter Asche und Bier bestehenden Mischung überpinselt.
Dieser Vorgang wird in der Glockengießersprache als "geäschert"
bezeichnet.
Nunn beginnt das Formen der eigentlichen Lehmglocke, des sogenannten
Glockenhemdes. Hierzu wird ein zarter, mit Pferdemist vermischter, Lehm
verwandt. Das Auftragen dieser Mischung geschieht wieder schichtweise und
zwar so lange, bis sie der auf der Schablone ausgeschnittenen äußeren
Glockenwand entspricht. Den Abschluß des Formens bildet der Glockenmantel,
eine etwa zehn Zentimeter dicke Lehmmasse. Senkrechte und waagerechte,
der Glockenform angepasste Stäbe aus Bandeisen, umklammern ihn korsettartig
und geben ihm den nötigen Halt sowie die erforderliche Festigkeit.
Ein Flaschenzug zieht den Mantel hoch, der infolge der isolierenden
Fettschicht sich leicht von der in seinem Inneren befindlichen Lehmglocke
löst. Da sich unter dieser Lehmglocke die durch das Äschern gebildete
Trennschicht befindet, kann sie ohne Schwierigkeiten abgeschlagen werden.
Ein schwaches Strohfeuer bringt das Wachs der Buchstaben und Bilder im
Inneren des Mantels zum Schmelzen, die Negative bleiben zurück.
An einer zuvor genau markierten Stelle wird dann der am Flaschenzug hängende
Mantel wieder heruntergelassen. Zwischen Mantel und Kern befindet sich
nunmehr ein Hohlraum, der beim Guß das flüssige Metall aufnimmt.
Nun gilt es noch, die geformte Krone aufzusetzen und sie mit Mantel sowie
Kern mit kräftigen Drahtschlingen zu verbinden. Damit nun die Glockenform
dem Druck der Metallschmelze standhalten kann, wird die Dammgrube mit trockener
Erde ausgefüllt und schichtweise festgestampft.
Heute nun, wo wir dem Glockengusse zusehen, sind alle Vorbereitungsarbeiten
bendet. Im Gießofen aber brodelt in weißlicher Glut das Metall.
Zuletzt wird noch der weißliche Schaum entfernt, der sich auf der
Oberfläche der Schmelze gebildet hat. Das nun in die Glut hineingeworfene
Aschensalz macht die Glockenspeise flüssiger.
Und so ist die Zeit des Gusses gekommen. Mein Vater steht am Gießofen,
noch einmal alles überschauend und seine Gesellen mahnend, ruhig Blut
zu bewahren und den Verstand walten zu lassen. Eine feierliche Stille!
Ein kurzes Gebet. Und mit den Worten "Im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes
und des heiligen Geistes" stößt er eine Kolbenstange dreimal
anhebend den konisch zulaufenden Zapfen, der das Gußloch bisher verschlossen
hatte, in den Ofen zurück, und heraus strömt nun das flüssige
Metall. Einer glühenden Feuerschlange gleich, ergießt es sich
in den Gußkanal der ersten Glockenform zu, um zischend, sprühend
und dumpf grollend tief in ihrem Inneren zu verschwinden. Aus den Windpfeiden
entweicht die Luft, zuletzt gemischt mit glühenden Metallspritzern.
Das ist ein Zeichen dafür, daß die Glockenform gefüllt
ist. Wie bei der ersten, so verläuft nacheinander der Guß der
anderen drei Glocken. Nach etwa vierundzwanzig Stunden hat sich das Metall
in der Erde abgekühlt. Die Dammgrube wird geöffnet und die Glocken
werden samt Mantel und Kern heraufgezogen. Nach dem stückweise Zerschlagen
der Form kommen die Glocken gußgeschwärzt zum Vorschein. Grober
Flußsand und Wasser reinigen, Sandstein und Bimsstein polieren sie.
Anderthalb Jahrhunderte haben meine Vorfahren durch vier Generationen
in Windecken Glocken gegossen und dadurch ihren Namen und den ihrer Vaterstadt
in die weiteste Umgebung getragen und ihren Ruhm verkündet.
Hierbei soll nicht unerwähnt bleien, daß die Glockengießerfamilie
Bach in besonderer Gunst ihres Landesfürsten stand. Einmal wegen
ihrer besonderen Kunst und zum anderen, weil sie die einzige Firma im ganzen
Hanauerlande war, die sie ausübte. So sandte der damals regierende
Erbprinz Wilhelm, der spätere Landgraf Wilhelm IX. (1764-1806), meinem
Urgroßvater Johann Georg Bach in dessen jungen Jahren zur Weiterbildung
im Beruf auf Staatskosten in die größeren Gießereien der
Nachbarländer. Außérdem versäumte er auch nicht,
so oft ihn sein Weg nach Windecken führte, die Bach'sche Gießerei
zu besuchen, um sich eingehend nach dem Geschäftsgang zu erkundigen.
Wie schon gesagt, vererbte sich die Kunst des Glockengießens in der
Bach'schen Familie vom Vater auf den Sohn durch vier Generationen fort.
Dabei wurden die gemachten Erfahrungen und Verbesserungen als Familien-und
Geschäftsgeheimnis streng gehütet.
Da aber der Glockenguß allein nicht den Mann ernährte, wurden
in der Bach'schen Gießerei auch andere Metallgegenstände wie
Taufbecken, Kronleuchter, Mörser, Bügeleisen etc. etc. gefertigt.
Ebenso wurden Feuerspritzen von vorzüglicher Beschaffenheit hergestellt,
die noch in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts in vielen Orten unserer
Gegend im Gebrauch waren. Noch heute können einige Bach-Feuerspritzen
in den Museen zu Marburg, Darmstadt, Fulda und Laubach bewundert werden.
Aber die wachsende Konkurrenz der Großbetriebe und die leichteren
Transportmöglichkeiten der modernen Zeit (Eisenbahnen) sowie schwere
Schicksalsschläge familiärer Art (zwei Geschäftsführer
starben innerhalb eines Jahres) zwagen uns, das Unternehmen aufzugeben,
das in hundertfünfzigjähriger Tradition ein beredtes Zeugnis
des Bach'schen Kunstsinnes abgelegt hatte. Mit Stolz kann ich unter Abänderung
des Städtenamens auf meine Ahnherren das Dichterwort anwenden:
"Sie waren einst Glockengießer zu Windecken in der Stadt,
gar ehrenwerte Meister, gewandt in Rat und Tat.
Sie haben einst gegossen viele Glocken, gelb und weiß,
für Kirchen und Kapellen zu Gottes Lob und Preis.
Und ihre Glocken klangen so voll, so hell und rein!
Sie gossen auch Lieb' und Glauben mit in ihre Form hinein!"
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