Auf die freiheitliche, demokratische Verwaltung des Ministers Eberhard
folgte im Jahre 1850 in Kurhessen die vom Volke verhaßte reaktionäre
Zeit des Ministers Hassenpflug. Wie sich dessen rückschrittliche Verwaltung
noch nach dreißig Jahre in Windecken auswirkte, zeigen folgende zwei
Begebenheiten:
An einem Vormittag Ende der achtziger Jahre saß ein Windecker
Bürger während des Gottesdienstes friedlich vor seiner Haustür
und las Zeitung. Der Gendarm nahm daran Anstoß und zeigte ihm beim
Amtsgericht an. Der Richter mußte den Angeklagten auf Grund eines
kurhessischen Gesetzes aus der Ära Hassenpflug verurteilen, obwohl
Kurhessen schon seit 20 Jahren in Preußen aufgegangen war, wo das
Verbot nicht bestand. Am Schluß gab der Richter dem Gendarmen die
Weisung, ihn fürderhin mit solchen Bagatellsachen zu verschonen.
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Der Bahnhofswartesaal 2ter Klasse 1933/34.
An der Wand sind die Bilder von Adolf Hitler und Hindenburg zu erkennen.Repro:
Rolf Hohmann |
Nach einem Erlaß des gleichen Ministers und aus derselben Zeit und
Atmosphäre (1854) war den kurhessischen Beamten und Lehrern das Kartenspielen
verboten. Nun verbrachten im Jahre 1887 drei Frankfurter Lehrer die Herbstferien
in ihrer Heimatstadt Windecken. An einem schönen Nachmittage machten
sie mit einem befreundeten Windecker Lehrer einen längeren Sapziergang
und kehrten am Schlusse im Windecker Bahnhof ein, mit dem eine Gastwirtschaft
verbunden war und heute noch ist, und tranken ein Glas Bier. Außer
ihnen war niemand im Wartesaal zweiter Klasse. Zur weiteren Unterhaltung
spielten sie Karten. Nach kurzer Zeit betrat ein Reisender den Wartesaal.
Infolgedessen brachen sie das Spiel bei der ersten passenden Gelegenheit
ab. Der eintretende Reisende war der Hanauer Kreissekretär, ein tüchtiger
Beamter, der eifrigst bestrebt war, seinem Chef, dem Herrn Landrat Graf
v. Bismarck, die Verwaltung des Kreises möglichst zu erleichtern.
Wenige Tage später erhielt der Windecker Lehrer, dessen Name
der Kreissekretär wahrscheinlich aus der Unterhaltung entnommen hatte,
wegen Kartenspielens eine Vorladung vom Landratsamt. Die Frankfurter Lehrer
waren für den Herrn Kreissekretär nicht erreichbar, da sie nicht
zu seinem Verwaltungsbezirk gehörten. Am Schlusse der mündlichen
Verhandlung, schickte sich der vernehmende Beamte an, ein Potokoll darüber
aufzunehmen. Da erklärte der Lehrer, ihm diese Arbeit abnehmen und
das Schriftstück zu Hause in Ruhe und Muse selbst aufsetzen zu wollen.
Nach langem Hin und Her willigte der Beamte unter der Bedingung ein, daß
es zu einem festgesetzten Termin in seinen Händen sei.
Die Angelegenheit wurde ruchbar. Den Zeitungen bot sie willkommenen
Stoff. Kleine Lokalblätter und große Weltzeitungen des In- und
Auslandes, unpolitische und politische in allen Schattierungen berichteten
darüber und machten ihre Glossen, Witzblätter brachten die Illustrationen
dazu. Kurzum es gab einen großen Kladderadatsch, der keinem der beteiligten
Parteien angenehm war, am wenigsten dem Hanauer Landratsamt. Die Folge
war, es ließ die Sache im Sande verlaufen.
Der Landrat Graf v. Bismarck avancierte bald darauf und wurde Regierungspräsident
in Hannover, anschließend Oberpräsident in Ostpreußen.
Sein Nachfolger in Hanau übernahm die Verwaltung in eigene Regie.
Dem an selbständiges, eigenmächtiges Handeln gewohnten Kreissekretär
fiel es schwer, sich der neuen Ordnung anzupassen. Es überstieg seine
Nervenkraft. Er wurde krank und starb in den Weihnachtstagen 1889,
ein Opfer der Ära Hassenpflug und ihrer Erlasse.
Aus der gleichen Zeit und vom gleichen kurhessischen Minister stammt
auch das Verbot, wonach Beamten und Lehrern nicht gestattet war, einen
Bart zu tragen. Man sah darin den Ausdruck der Unzufriedenheit mit der
Regierung und den bestehenden Verhältnisen. Es ist aber nicht bekannt
geworden, ob ein Bart tragender Beamter oder Lehrer deshalb zur Rechenschaft
gezogen worden ist. |