Wie auf dem Lande überhaupt, ob Kleinstadt oder Dorf, so kennen
sich auch alle Leute, die in Windecken wohnen. Sie sind meißtens miteinander
blutsverwandt, zumindest verschwägert oder versippt. Sie kennen deshalb
auch gegenseitig alle ihre Vorzüge, aber auch ihre Fehler, haargenau.
Fremden gegenüber fühlen sie sich aber als eine geschlossene
Familie. Es läßt keiner etwas auf den anderen kommen und nimmt
ihn soviel wie möglich in Schutz. Die Windecker fühlen sich sogar
mit beleidigt, wenn seinem Mitbürger von Fremden etwas Unehrenhaftes
nachgesagt wird; besonders, wenn es sich um einen aus seiner "Freundschaft"
handelt.
Hier bewahrheitet sich, was Goethe Mephisto im "Faust" feststellen läßt,
daß Blut ein besonderer Saft sei und das alte Sprichwort wohl recht
hat, wonach Blut dichter ist als Wasser und die Blutverwandtschaft stärker
als die trennende See. Aus diesem Grund läuft auf dem Lande kein Mensch
an dem amderen interessenlos vorüber wie in der Großstadt. Man
begrüßt sich und wechselt einige freundliche Worte. Das Hasten
und Jagen der Großstädter hat sie bis heute noch nicht erfaßt.
Die Begrüßungsworte richten sich meist nach der Tages- oder
Jahreszeit oder nehmen Bezug auf die augenblickliche Beschäftigung.
So beispielsweise: "Schon auf? Guten Morgen! Gut geschlafen? Schon so
früh auf den Beinen? Wasser holen?" Beim Frühstück: "Schon
wieder Hunger? Laß dir's gut schmecken!" Bei der Arbeit: "Seid nicht
so fleißig! Nur langsam ! Vom vielen Schaffen verrecken die Gäul!"
Im Laufe des Tages: "Ein schöner Tag heute! Heute regnet es nur einmal"
Heute meint's die Sonne aber gut! Heiß heut !" Beim Mittagessen:
"Guten Appetit! Worauf der der andere schmatzend erwidert: Nichts vertröpfelt,
nichts verschütt'" Am Nachmittag: "Heut will's aber gar nicht Feierabend
werden!" Beim Wagenladen: "Ladet nicht zu schwer! Seid vorsichtig, sonst
bricht ein Rad." Beim Zubettgehen: "Gute Nacht ! Schlaf wohl bis morgen
früh!" Beim Nießen: "Prosit! Gesundheit!" Aus allen diesen Grüßen
und Wünschen, deren Zahl noch leicht vermehrt werden könnte,
spricht die Vertrautheit zueinander und die gegenseitige Anteilnahme an allem
Tun und Lassen. Das Hasten und Jagen der Großstädter kennt er
wohl, aber es gefällt ihm nicht, es heimelt ihn nicht an. |