Wenn ich das Wartbäumchen in Natura oder im Bilde und die alte
Linde vor dem Schloßtore auf der aus dem Jahre 1828 stammenden Zeichnung
von Dr. Usener sehe, freue ich mich, rufen sie doch in mir manche Jugenderinnerung
wach. Dem Herrn Kreispfarrer Dr. Henß sei darum an dieser Stelle
herzlichst gedankt, daß er die Bilder der Bäume in der Festschrift
veröffentlicht hat. Ich bedauere aber, daß dabei zwei andere
alte Windecker Lindenbäume unerwähnt bleiben. Ich halte es deshalb
für meine Pflicht, bei dieser Gelegenheit auf sie besonders hinzuweisen.
Am Kilianstädter Tor am Bleichberg, wo der Fußpfad in die
Gärten abzweigt, die man das "Füllchen" nennt, wo später
der Arzt Dr. Walther sein Wohnhaus erstehen ließ, stand bis Ende
der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts (vor 1880) ein alter, schöner
Lindenbaum. Sein Stamm war rundum von einem sitzhohen Mäuerchen umgeben.
Hier trafen sich an schönen Sommerabenden, angelockt durch den süßlichen
Duft der Lindenblüte, die vom Alter gebeugten Männer und Frauen,
um sich von der Tagesarbeit auszuruhen und ein unschuldiges Schwätzchen
zu halten, in der Erinnerung an längst vergangene Tage und ihrem Erleben.
In der Nähe stand eine Bretterhütte, in der die Chausseearbeiter
ihre Arbeitsgeräte für den nächsten Tag aufbewahrten. Die
alten Leute, die alte Linde und die alte Bretterhütte sind nicht mehr.
Wer denkt noch an sie! "Auch ich bin manche Stunde entfernt von jenem Ort,
Und immer hör' ich's rauschen: Du fändest Ruhe dort!"
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Noch bis in unsere Tage fanden in Windecken alle größeren Feste auf den Bleichwiesen statt. Im Hintergrund die fast fertiggestellte Trasse der Ungehungstraße im Zuge der B45.
Dia: Rolf Hohmann 1970
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Der andere vergessene Lindenbaum stand auf der Bleiche, unweit des Steges,
der über die Nidder führt. Er war ebenso groß, und sein
Stamm ebenso dick, wie die der drei anderen, wie der des Wartbäumchens,
des Lindenbaumes am Kilianstädter Tor und der vor dem Schloßtore.
Vielleicht prüft der Magistrat einmal, ob es nicht geraten wäre,
neue Linden an geeigneten Plätzen für die kommenden Geschlechter
anzupflanzen, damit in in vier oder fünf Hundert Jahren ein alter
Windecker von ihnen mehr berichten kann.
Der Bericht über die Windecker Lindenbäume wäre unvollständig,
wenn bei der auf der Bleiche stehenden Linde unerwähnt bliebe, daß
in ihrer unmittelbaren Nähe, sozusagen unter ihrem Schatten, bis in
die Mitte der neunziger Jahre alljährlich am zweiten September der
Sieg von Sedan mit großer Begeisterung gefeiert wurde,
An diesem herrliche Siege hatte auch das XI. Armeecorps, zu dem damals
die Provinz Hessen-Nassau zählte und mit ihr die Windecker Krieger,
hervorragenden Anteil. Denn ihm, dem XI. Armeecorps, fiel nämlich
die schwierige Aufgabe zu, mit dem V. Armeecorps, den Posenern, in
einem weit nach Westen ausholendm Bogen den Umklammerungsring um die Festung
Sedan von Norden her zu schließen und den Feind bei den Ortschaften
St. Menges und Floing anzugreifen und in die Festung Sedan zurückzuwerfen.
Es gelang. Die Kesselschlacht von Sedan wurde gewonnen und Napoleon dabei
gefangen genommen. Darob große Freude in ganz Deutschland!
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Der Niddersteg an der Bleiche wurde beim Bau der Umgehungsstraße nach Fertigstellung der Brücke abgebrochen.
Dia: Rolf Hohmann 1970
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Der Tag von Sedan wurde in der Folgezeit zum Feiertag erhoben. Am Morgen
Dankesgottesdienst in der Kirchge, am Nachmittag eine volksfestmäßige
Feier auf der Bleiche, wobei nach einem von der Kapelle gespielten Musikstücke
ein Redner eine Ansprache hielt, in der er den Hergang der Schlacht und
ihren glänzenden Erolg schilderte und dabei besonders der Taten der
Windecker Krieger gedachte. Mit dem Gesang der Vaterlandslieder "Heil
dir im Siegerkranz" und "Es braust ein Ruf Donnerhall" schloß der
offizielle Teil der Feier. Die jungen Leute lustierten sich nun auf dem
Tanzboden, die Schulkinder vergnügten sich mit Wetturnen und Wettspielen
und Vorführungen von Reigen. Zu rasch vergingen die Feierstunden für
alle Teilnehmer.
Bei anbrechender Dunkelheit wurde ein Fackelzug für den Heimmarsch
aufgestellt, vornweg die Musikkapelle und die Krieger, denen nächst
Gott der Dank galt für den errungenen Sieg, der Ursache zu der heutigen
Feier. Vor der Kirche hielt der Zug. Herr Metropolitan Ullrich hielt eine
kurze Ansprache. Die Musikkapelle intonierte den Choral "Nun danket alle
Gott" und alle sangen freudig und bewegten Herzens mit. Am Marktplatz löste
sich der Festzug auf. Alle Festteilnehmer konnten nun in dem erhebenden
Bewußtsein nach Hause gehen, ein geeintes Vaterland zu besitzen,
auf das sie stolz sein konnten.
Um gerecht zu sein, muß ich darauf hinweisen und betonen, daß
man bei der Feier des Sedantages nicht versäumt hat, neben den Teilnehmern
des letzten Krieges (1870/81) auch den einzigen, noch lebenden Freiheitskämpfer
von 1813, den alten Herrn Fehr in den Mittelpunkt des Tages zu stellen.
Für ihn schmückte man einen Wagen mit Fahnen und Girlanden aus
Eichenlaub und ermöglichte auf diese Weise dem alten, gebrechlichen
Manne, am Festzuge teilzunehmen, von mehreren weißgekleideten Jungfrauen
mit schwarz-weiß-roten Schärpen betreut. Freude strahlte dem
alten Herrn über das ganze Gesicht. Beglückt dankte er für
alle Ehrungen und Ovationen, die ihm während des ganzen Tages zuteil
wurden.
Sicherlich ein erhebendes Gefühl für ihn vor nahezu siebzig
Jahren als junger Mann zu dem Aufbau Deutschlands sein Teil beigetragen
zu haben. Wenn auch noch große Hindernisse zu überwältigen
waren, so hatte er doch die Genugtuung, daß sein Anteil am Aufbau
Deutschlands von dem späteren Geschlecht anerkannt wurde. Vielleicht
war der Sedantag der schönste Tag seines Lebens! Wenn ich mich nicht
sehr irre, wohnte Herr Fehr in der Neugasse, der Apotheke schräg gegenüber. |