In den ersten Jahren meiner Dörnigheimer Amtstätigkeit verbrachte
ich die Sonntage meistens im Vaterhause zu Windecken. So auch am 9. März
1891. Auf diesen Sonntagnachmittag drei Uhr hatte die antisemitische Ortsgruppe
Kaichen zu einer Versammlung in den Saal der Windecker Hochmühle eingeladen,
auf welcher der damals weit und breit bekannte Reichtagsabgeordnete Dr.
Böckel aus Marburg sprechen sollte. Ihn einmal zu sehen und zu hören,
reizte mich, obwohl ich nicht antisemitisch gesonnen war, mit einigen Männern
aus unserer Nachbarschaft die Hochmühle zu besuchen.
Schon von weitem hörte man den Lärm der auf dem Hofe versammelten
Menschen. Es waren meistenteils junge Leute aus den nahen Städten
Hanau und Offenbach. Ihre Unterhaltung ließ darauf schließen,
daß sie beabsichtigten, die Versammlung zu stören und wenn möglich
sie zu sprengen. Vorsichtigerweise hatten zwei Gendarmen die Tür zum
Versammlungsaal abgeschlossen, den Schlüssel abgezogen und sich davor
postiert, um so ein vorzeitiges Eindringen in den Saal zu vereiteln. Unterdessen
aber wuchs der Menschenhaufe zusehends.
Der legendäre Fenstereinstieg
Kurz vor drei erschien als Ortspolizeibehörde der stellvertretende
Bürgermeister, der Präsenzer Hochstadt, vor Aufregung kreideweiß,
mit einem Gendarmen, der ihm den Weg durch die dichte Menschenmenge frei
machte. Eine so große Zahl aufgewühlter Menschen zu besänftigen,
war dem alten Herrn eine ungewohnte Aufgabe. Der Gendarm öffnete die
Saaltür und dicht hinter ihm und dem Vizebürgermeister stürzten
sich die jungen Leute laut schreiend und gröhlend in den Saal. Dr.
Böckel und den Männern aus Kaichen, welche die Versammlung einberufen
hatten, war es unter großem Hallo der im Hofe stehenden gelungen,
auf einer Leiter durch ein seitliches Fenster in den Saal einzusteigen
und ihren Platz am Vorstandstisch zu erreichen. Die jugendlichen Radaubrüder
stürmten aber bis zur Bühne vor und beschimpften und bedrohten
mit Fäusten, Stöcken und Schirmen die auf der Bühne sitzenden
Männer.
Ein großer Tumult ! Als sich aber nach langem Warten der Lärm
nicht legen wollte und das Getümmel immer größer wurde,
soll vom Vorstandstische das Wort "Bande" in den Saal gerufen worden sein.
Das schlug dem Faß den Boden aus. Die Empörung stieg aufs äußerste
und löste einen unbeschreiblichen Krawall aus. Ich selbst habe das
Wort nicht hören können. Denn ich stand auf dem Hofe und dazu
ganz bescheiden in einer der hintersten Reihen. Die drei Gendarmen waren
solchem Aufruhr gegenüber vollständig machtlos. Der an derartige
Vorgänge mehr gewöhnte Reichtagsabgeordnete Dr. Böckel sah
ein, daß keine Ruhe zu erreichen war, und verzichtete aufs Wort.
Daraufhin erklärte einer der Gendarmen die Versammlung für geschlossen.
Als Dr. Böckel mit seinen Begleitern den Saal verließ, wurde
er mit Pfuirufen und Schimpfworten überschüttet. Das unfaire
Gebahren der Menge widerte mich an. Ich ging heim.
Ein Gendarm zog blank
Was mir über den weiteren Verlauf des Tages erzählt wurde,
ist folgendes: Die Antisemiten haben ein anderes Gasthaus aufgesucht, um
sich in einem Privatzimmer des Wirtes über ihr weiteres Tun zu beraten.
Die Gegenseite umstellte dieses Gasthaus und wartete ab, bis Dr. Böckel
und seine Anhänger es verließ, um nach Kaichen zu gehen.
Sie zeigten sich kaum an der Haustür, da ging der Krach von neuem
los. Eine Straßenschlacht entwickelte sich. Pflastersteine flogen,
Revolverschüsse krachten. Im Handgemenge soll sogar ein Gendarm angegriffen
worden sein, sodaß er gezwungen war, blank zu ziehen. Selbst gesehen
habe ich das alles nicht. Es wurde mir aber von verschiedenen Seiten berichtet,
sodaß ich keinen Grunde habe, an der Wahrheit dieser Darstellung
zu zweifeln.
Als ich am Abend nach dem Bahnhof ging, um nach Dörnigheim zu fahren,
war in Windecken alles ruhig, als wenn nichts vorgefallen wäre und
die ganze Aufregung am Nachmittag ein Traum gewesen sei. In Bruchköbel
kreuzte uns ein Extrazug mit Soldaten, zwei Kompagnien vom Hanauer Regiment
Nr. 80, die, wie wir von dem Bahnpersonal hörten, nach Windecken beordert
waren, dort Ruhe und Ordnung herzustellen. Die Vorbereitungen, die der
Ausmarsch der Truppe erforderte, dauerte mehrere Stunden. Das läßt
sich leicht erklären. Es war Sonntag! Die Soldaten hatten dienstfrei
und waren darum viele auch nicht in der Kaserne. Sie mußten durch
Alarm zusammengerufen, im wahrsten Sinne des Wortes "zusammen getrommelt"
werden.
Windecken befindet sich im Kriegszustand
Die Hanauer Bevölkerung erschrak über den an einem Sonntag
ungewöhnlichen Trommelwirbel und erhielt auf Befragen die Antwort,
in Windecken sei eine Revolution ausgebrochen, die Soldaten müßten
hin, um sie zu unterdrücken. Auch für die Eisenbahnverwaltung
kam der vom Landratsamt gestellte Antrag, einen Extrazug für die Fahrt
der Soldaten nach Windecken bereitzustellen, überraschend. Sie mußte
dazu dienstfreie Beamte zusammen rufen. Das alles erforderte Zeit. Infolgedessen
kam das Militär zu spät, um helfen zu können. Der Aufruhr
war längt vorüber. Und die von auswärts gekommenen Hauptkrawaller
waren über alle Berge und freuten sich daheim über ihre Heldentat.
In Windecken herrschte die übliche Sonntagsruhe. Die Familien saßen
ruhig und gelassen beim Abendessen.
Plötzlich wurde die Stille durch den militärischen Gleichschritt
einer anrückenden Truppe unterbrochen. Niemand kam es in den Sinn,
das in Verbindung zu bringen mit den Vorkommnissen am Nachmittag. Die Soldatenschritte
hörend, Messer und Gabel beiseite legend, auf die Straße eilend,
die Soldaten sehen und nachzulaufen, das war für alt und jung alles
eins! Am Marktplatz machten die Soldaten Halt. Nach dem Kommando: "Stillgestanden"
erklang ein Trommelwirbel, das Zeichen für Vergatterung und für
die Übernahme der Stadt durch das Militär. Als die Trommeln verstummt
waren, rief der Hauptmann mit weithin schallender Stimme: "Ich bin der
Stadtkommandant von Windecken. Windecken befindet sich von jetzt ab im
Kriegszustand! Ich fordere die Einwohner auf, sofort die Straßen
zu verlassen und sich in ihre Wohnungen zu begeben und sich dort ruhig
zu verhalten, daß ich nicht gezwungen bin, militärisch einzuschreiten!"
An den Straßenecken werden nun Sicherheitsposten aufgestellt. Patrouillen
machten die Runde durch die Stadt und suchten die Wirtshäuser ab,
schickten die Gäste heim und verboten den Wirten, für den Abend
weiterhin Getränke auszuschenken.
Kein Pardon für harmlose Skatspieler
Ein Zwischenfall! In der vom Stadtkern abseits gelegenen Hochmühle
hatte man nichts vom Einrücken des Militärs gemerkt. Dort saßen
vier Männer und spielten schiedlich, friedlich und in der größten
Gemütsruhe ihren sonntäglichen Skat. Sie hielten die Aufforderung
der Patrouille, nach Hause zu gehen, für einen verspäteten Faschingsscherz.
Der Patrouillenführer verstand aber keinen Spaß und führte
sein Kommando aus und nahm einen der Spieler, der sich am meisten gegen
die unbeliebte Störung seines Skats ereifert hatte, mit zur Wache.
Der Hauptman ließ sich den Hergang erzählen und schickte den
harmlosen Inhaftierten heim.
Wer war das ? Es war Herr Georg Clauß aus dem Schlitzerhof, der
sogenannte "Nordländer", weil er nach seiner Rückkehr von der
Wanderschaft den norddeutschen Dialekt beibehielt. Brüder von ihm
waren der Schmiedemeister Jean Nikolaus Clauß, Philipp Clauß
aus der Neugasse und Peter Clauß, alles ehrbare, biedere Männer.
Als in der Nacht nichts Störendes vorgefallen war, fuhr das Militär
am frühen Morgen nach Hanau zurück, eine kleine Abteilung aus
Sicherheitsgründen in Windecken lassend. Nur dadurch, daß ein
Gendarm es war, der die militärische Hilfe beim Landratsamt beantragt
hatte und nicht der Bürgermeister oder sein Stellvertreter, brauchte
die Windecker Stadtkasse für die entstehenden Kosten nicht aufzukommen.
Sie wurden von der Staatskasse übernommen.
Das war die Revolution in Windecken am 9. März 1891.-------
Nachdem nun nahezu siebenzig Jahr darüber verflossen sind, können
wir das ganze Geschehen von höherer Warte aus beurteilen: Die
Aktion gegen den Antisemitismaus war von jüdischer Seite finanziert
worden. Die Juden selbst aber hielten sich schlauerweise im Hintergrund
und traten öffentlich nicht in Erscheinung. Der eigentliche Planer
und Leiter des Unternehemens soll der Reichtagsabgeordnete Karl Ulrich
gewesen sein, der eigens hierzu von Berlin gekommen war, um unauffällig
und in der Nähe seine Direktiven zu geben. Der Handstreich war ihm
voll und ganz gelungen. Er hat seinen politischen Gegner glänzend
überrunpelt ! Daran ist nicht zu zweifeln. Die Art und Weise aber,
wie seine Anordnungen ausgeführt wurden, bleibt beschämend.---
Anmerkng: Der Geschichtsverein Windecken 2000 hat dieses Kapitel
aus den Erinnerungen des Konrektors Karl Heinrich Bach, ohne jegliche Änderung,
wortgetreu übernommen. Hinzugefügt wurden lediglich die Zwischenüberschriften. |