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Geschichtsverein Windecken 2000
 
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Der "Volkschor" Windecken wurde von den Nazis verboten
Eine Dokumentation nach Archivunterlagen
Von Rolf Hohmann

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Dia: Helmut Roßbach
Im Jahre 1842 beteiligten sich 31 Aktive eines Windecker Gesangvereins, von dem bisher weder Name noch Gründungsjahr bekannt sind, am 4. Wetterauer Sängerfest in Friedberg. Darauf basierend fand vom 10. bis 13. Juni 1983 das Fest "140 Jahre Chorgesang in Windecken" statt. In seinem Grußwort erinnerte Fritz Stoll, der seit seiner Jugend dem Chorgesang verbunden war, mit einem Halbsatz auch an das dunkelste Kapitel der Gesangvereine in Windecken: "Die stete Aufwärtsentwicklung konnte ich seit 1919 miterleben; aber auch das Schlimmste, was uns als Verein zuteil wurde." Fritz Stoll war Mitglied der "Freien Sänger", aus denen 1923 der "Volkschor Windecken" hervorging, der dem Deutschen Arbeiter-Sängerbund angehörte.

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Die gravierenden Umwälzungen auch im Vereinsleben des Nidderstädtchen zu Beginn des "Tausendjährigen Reiches" spiegeln sich in den Dokumenten der im Archiv erhalten gebliebenen Akte "Neuwahl, Gleichschaltung und Vermögens-Beschlagnahmung sämtlicher Vereine" auf bedrückende Weise wider. Den Unterlagen zufolge wurde das Vermögen des Volkschors bereits am 6. Mai 1933 eingezogen. Ein offizielles Verbot schien zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht erfolgt zu sein. Doch der Vorstand unter seinem seit 1926 amtierenden Vorsitzenden Fritz Stoll sah wohl keine Zukuftschancen und trat zwei Wochen später zurück.

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Danach unternahmen andere Sangesfreunde den Versuch, den Volkschor doch noch vor der drohenden Auflösung zu retten. Zu bilden war entsprechend den Auflagen der neuen Herren ein Vorstand, der "mindestens 51 Prozent nationalsozialistisch" zusammengesetzt sein mußte. Das Protokoll über den Verlauf der für den 26. Mai 1933 einberufenen Generalversammlung beginnt wie folgt: "Zu Punkt 1 wurde von der Versammlung einstimmig beschlossen, aus dem Arbeiter-Sängerbund auszutreten. Zu Punkt 2 teilte der seitherige Vorsitzende mit, daß der alte Vorstand am 21. Mai zurückgetreten ist. Durch Aufruf wurde der Parteigenosse der NSDAP Wilhelm Sch. zum 1. Vorsitzenden einstimmig gewählt. Der neue Vorsitzende eröffnete die Versammlung mit einem 'Heil Hitler' und ernannte die folgenden Vorstandmitglieder." Von acht ernannten Vorstandsmitgliedern gehörten fünf, nämlich 2. Vorsitzender Wilhelm Gebhardt, 1. Schriftführer Wilhelm Kurz, 2. Kassierer Wilhelm Fuß sowie die Revisoren Emil Lebeau und Wilhelm Kropp weder der NSDAP noch einer ihrer wichtigsten Unterorganisationen an.

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Dia: Helmut Roßbach
Obwohl das nationalsozialistische "Klassenziel" also bei weitem nicht erreicht war, gab sich der neue Mann an der Spitze des Volkschores optimistisch, wie aus dem Versammlungsprotokoll hervorgeht: "Der Vorsitzende richtete den dringenden Appell an alle Sänger und Sängerinnen, sich mit aller Kraft einzusetzen für das von der Regierung für die deutsche Kultur gesteckte Ziel. Darauf schloß der Vorsitzende die Versammlung mit einem dreifachen 'Sieg Heil' auf die Reichsregierung und unseren Volskanzler Adolf Hitler, in das von der Versammlung begeistert eingestimt wurde." Am 30. Mai 1933 richtete der kommissarische Bürgermeister der Stadt Windecken an den Landrat in Hanau folgende Anfrage: "Beifolgend berichte ich den neuen Vorstand des 'Volkschors Windecken' und lege das Protokoll der letzten Generalversammlung vor. Am 6. Mai d.J. ist sämtlicher Besitz des Vereins beschlagnahmt worden. Können die beschlagnahmten Sachen ausgehändigt werden?" In einem an alle Bürgermeister des Kreises gerichtetes Schreiben betreffend "Die Sicherstellung des Vermögens der marxistisch eingestellten Gesang-, Turn-und pp Vereine" teilte Landrat Löser am 31. Mai 1933 mit, daß vorerst keine Freigabe des beschlagnahmten Vermögens  erfolgen könne.

Eine Vereins-Fusion kam nicht zustande

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Dia: Helmut Roßbach
Am 7. Juni 1933 fertigte Stadtsekretär Reul folgende Aktennotiz an: "Der Herr Landrat hat persönlich telefonisch mitgeteilt, daß 2 Vertreter des Volkschores Windecken bei ihm sich befinden und um Genehmigung nachgesucht haben, bei der Feierlichkeit des Vogelsberger Höhen-Clubs am kommenden Sonntag mitwirken zu können. Der Herr Landrat hat ausnahmsweise die Genehmigung erteilt, daß der Volkschor mitwirken kann. Er stellte jedoch für das Weiterbestehen des Vereins folgende Bedingungen: 1. Der Verein muß den Namen tragen: Nationalsozialistischer Volkschor oder N.S. Gesangverein. Er muß umgehend sein Austreten aus dem Arbeitersängerbund erklären. 3. Sämtliche Briefbogen pp mit der seitherigen Bezeichnung, ferner alle Stempel usw. sind zu vernichten. 4. Die hier befindliche Bibliothek ist umgehend von allen marxistischen Schriften zu säubern. Mit der Bereinigung der Bibliothek wird zweckmäßigerweise ein Lehrer beauftragt. Alle marxistischen Schriften sind dem Landrat in Hanau abzuliefern."

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Am 12. Juni 1933 teilte der kommissarische Bürgermeister dem Landrat mit, daß fast alle Voraussetzungen für ein Fortbestehen des Volkschors geschaffen seien. Nur die Säuberung der Bibliothek habe noch nicht erfolgen können. Am nächten  Tag erging an Lehrer Viehmann die Aufforderung: "Der Landrat hat angeordnet, daß die hier im Rathaus sichergestellte Bibliothek von allen marxistischen Schriften gesäubert wird. Sie wollen sich deshalb am Dienstag hier im Rathaus zwecks Säuberung einfinden. Alle marxistischen Schriften sollen dem Hern Landrat vorgelegt werden."

Unterwerfung half nicht viel

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Dia: Helmut Roßbach
Da nun alle "Unterwerfung-Forderungen" erfüllt waren, schien das Schlimmste abgewendet, und damals glaubten sicher alle Mitglieder des Volkschores an einem Fortbestehen des Gesangvereins. Sie sahen sich in dieser Auffassung auch deshalb bestärkt, weil laut Quittung vom 9. Juni 1933 das "sichergestellte Sparguthaben der Frauen vom Volkschor" in Höhe von 44,72 Reichsmark zurückerstattet worden war. Doch dieser Optimismus hielt der brutalen Wirklichkeit des Frühjahrs 1933 nicht stand. Am 17. Juni 1933 fand beim Landrat eine Besprechung bezüglich der Gleichstellung der Vereine statt.

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In einem Aktenvermerk hielt der Windecker Bürgermeister das Ergebnis fest: "Der Herr Landrat hat angeordnet, daß der Vorstand mindestens zu 51 Prozent aus Parteimitgliedern der NSDAP sein muß, sofern es alte Vorkämpfer für die Bewegung gewesen sind. Der Herr Landrat hat ersucht, daß ihm die neuen Vorstände vorgelegt werden, damit er sein Einverständnis geben kann. Lehnt der Herr Landrat sein Einverständnis ab, kann der Verein nicht weiter existieren." Da jedoch nur drei der acht Vorstandsmitglieder der NSDAP oder einer wichtigen Unterorganisation wie der SA angehörten, bedeutete dies das Ende des 1923 aus der Freien Sängervereinigung Windecken hervorgegangenen Volkschores. Dieser Gesangverein entstand nach dem Zusammenbruch als "Volkschor 1945" wieder und nannte sich später "Chorgemeinschaft Windecken".

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Den beiden anderen Gesangvereine des alten Grafenstädtchens, der 1861 gegründeten "Concordia" und dem seit 1876 bestehenden "Liederkranz" blieb das Schicksal eines Verbots erspart, denn sie wurden von den Nazis als "bürgerlich" eingestuft. Interessant ist folgendes Schreiben des Concordia-Vorsitzenden vom 28. Juni 1933 an den Ortsgruppenleiter: "Da gelegentlich einer Vorstandssitzung der drei hiesigen Gesangvereine eine Einigung bezüglich Zusammengehen der drei Vereine, durch die Ablehung von seiten des Liederkranzes nicht erzielt werden konnte, hat eine weitere Sitzung zwischen dem Vorstand der Concordia und dem Nat.Soz. Volkschor stattgefunden. Hierbei waren beide Vorstände grundsätzlich zu einer Einigung bereit. Uns fehlten indessen Richtlinien, auf welcher Basis ein Zusammengehen entsprechend der augenblicklich bestehenden Verordnungen möglich ist." Im Jahre 1933 scheiterte also ein Zusammenschluß der drei Gesangvereine in Windecken. Dieser Schritt wurde erst am 4. April 1970 vollzogen, als Concordia und Chorgemeinschaft zur "Sängervereinigung Windecken" fusionierten.

Mit der Gleichschaltung klappte es nicht recht

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Am 1. Juli 1933 teilte der Gesangverein Liederkranz dem Bürgermeister "Mit treudeutschen Sängergruß" die Namen der neun Vorstandsmitglieder mit. Als "politisch neutral" wurden 1. Vorsitzender Walter Salzmann, 1. Kassierer Ph. Lang sowie die Beisitzer Hch. Dahl und J. Merz bezeichnet. Ein Vorstandsmitglied gehörte seit dem 1. April 1933 dem Kampfbund an, ein anderer dem SA-Werksturm. Unter der Namensliste befindet sich diese Anmerkung: "Wir versichern noch, daß die politisch neutralen Mitglieder in keinerlei Beziehung zur SPD oder KPD gestanden haben." Mit dem Ergebnis der Gleichschaltung der Vereine in Windecken konnten die braunen Machthaber absolut nicht zufrieden sein, denn viele Vorstände waren weit von der Forderung nach "51%iger nationalsozialstischer Zusammensetzung" entfernt.

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Am 20. Juli 1933 teilte der Windecker Bürgermeister dem Hanauer Landrat die Namen der Vereinsvorstandsmitglieder mit, die als "nicht marxistisch" eingestuft worden waren. Genannt wurden der Turnverein Jahn, der Fußballclub Eintracht, der Schützenclub 1906, die Gesangvereine Concordia und Liederkranz, der Vogelsberger Höhen-Club, der Bauernverein und der Kaninchenzuchtverein Vorwärts. Die Aufstellung schließt mit der Bemerkung: "Es war nicht möglich, die Grundsätze, daß der 1. und 2. Vorsitzende Mitglieder der NSDAP sein sollen, durchzuführen. Jedoch ist gegen die Vorstände der einzelnen Vereine nichts einzuwenden." Um das Vereinsleben in Windecken nicht ganz zum Erliegen kommen zu lassen, sah sich der Landrat gezwungen, die Vorstandsliste abzusegnen.

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Am 20. November 1933 stellte der Ortsgruppenleiter folgende Bescheinigung aus: "Dem Gesangverein 'Liederkranz' Windecken wird der Flügel, sämtliches Notenmaterial mit Notenständer leihweise überlassen. Der Verein ist jedoch verpflichtet, die leihweise überlassenen Gegenstände instand zu halten und auf jederzeitigen Widerruf zurückzugeben." Am 3. Dezember 1933 richtete der letzte Vorsitzende des aufgelösten Volkschors im Auftrag der ehemaligen Mitglieder über den Ortsgruppenleiter folgendes Schreiben an Landrat Löser: "Das Vermögen des Volkschors, bestehend aus einem Tafelklavier, Notenschrank, Notenmaterial und Bargeld wurde im Mai ds. Jahres durch die Behörden sichergestellt. Auf unsere Bitte hin ist in den letzten Tagen das Klavier und das Notenmaterial dem Gesangverein 'Liederkranz' leihweise übergeben worden. Nach Auflösung des Volkschors sind die Mitglieder fast vollzählig dem Gesangverein 'Liederkranz' beigetreten, so daß dieser jetzt aus 90 Sängern besteht. In den wenigen Wochen des Zusamenwirkens unter der Leitung eines sehr befähigten Dirigenten hat sich durch das vorzügliche Stimmenmaterial ein Chor gebildet, in dem das deutsche Lied in wahrer Volksgemeinschaft zum Nutzen von uns allen gepflegt wird. Naturgemäß stellen diese Ziele an den Verein finanziell erhebliche Anforderungen.

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Der Chor braucht zur Anschaffung neuen Notenmaterials größere Geldmittel. Der größere Teil der Mitglieder ist erwerbslos, von den Beiträgen der übrigen ist es unmöglich, Noten anzuschaffen. Die Leitung des Chores beabsichtigt in absehbarer Zeit, einen Frauenchor zu bilden, um gemeinsam mit dem Männerchor größere Werke für gemischte Chöre aufzuführen. Auch für den Ausbau dieses Chors sind Gelder notwendig, die der Opferwille der Mitglieder nicht aufbringen kann. Die Notwendigkeit eines solchen Zieles ist unverkennbar, denn es soll auch den Bewohnern des flachen Landes ermöglicht werden ohne erhebliche Unkosten größere Chorwerke zu hören. Um dem Gesangverein 'Liederlust' dieses hohe Ziel zu ermöglichen, bitten wir dringend und ergebenst das gesamte Vermögen des ehemaligen Volkschors Windecken freizugeben und dem Gesangverein 'Liederlust"'übereignen zu wollen".

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Dia: Helmut Roßbach
Die Antwort des Landrats fiel kurz und unmißverständlich aus: "Unter Bezugnahme auf meine Rundverfügung vom 12. d.M. Zur entsprechenden Bescheidung des Antragstellers. Das gesamte Vermögen des aufgelösten Volkschors Windecken muß zugunsten des Staates enteignet werden." Der Treuhänder bot dann die beschlagnahmten Gegenstände dem Gesangverein Liederkranz gegen Zahlung von 75 Reichsmark zum Kauf an. Da der Verein nicht über diese Barmittel verfügte, aber sich dieses "Schnäppchen" nicht entgehen lassen wollte, nahm er bei der Spar-und Leihkasse Windecken ein Darlehen auf. Letztes Dokument in der Akte ist ein Vermerk des Treuhänders vom 10. April 1934: "Gesangverein Liederkranz hat bezahlt. Quittung hat vorgelegen. Der Herr Landrat hat Nachricht."

Lesen Sie dazu auch die Dokumentation "Große Turbulenzen im Turnverein Windecken vor dem Ersten Weltkrieg - Die Nazis machten nach der Machtübernahme kurzen Prozess"

Alle Fotos Nachlass Roßbach vom Jubiläumsfest 100 Jahre Männergesangverein "Concordia" Windecken 7.-10. Juli 1961


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