Nulla dies sine linea
Geschichtsverein Windecken 2000

 
Orte im Wandel
Aus der Festschrift zur 650 Jahr Feier der Stadt Windecken
Einleitung
Inhaltsverzeichnis
Geleitwort des Bürgermeisters
Geleitwort des Autors
Kapitel 1:
Von der Mitte des 9. bis zum Ende des 13. Jahrhunderts
Kapitel 2:
Die Bedeutung de Verleihung der Stadtrechte
Kapitel 3:
Die Burg und Burgmannen
Kapitel 4:
Stadtverfassung und Verwaltung
Kapitel 5:
Kirchen und Kapellen
Kapitel 6:
Die Einführung der Reformation
Kapitel 7:
Die Schulen
Kapitel 8:
Alte Stiftungen
Kapitel 9:
Im 30jährigen Krieg
Kapitel 10:
Ein Beitrag zur Familienkunde
Kapitel 11:
Die Pest
Kapitel 12:
Wirtschaftliches
Kapitel 13:
1800 bis zur Gegenwart
Kapitel 14:
Das Wartbäumchen

 
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Die Festschrift zur 650 Jahr Feier der Stadt Windecken

XIV. Das Wartbäumchen bei Windecken

Wenn man von Windecken nach Roßdorf geht, findet man ungefähr in der Hälfte des Weges, auf dem zwischen den beiden Orten sich erstreckenden Höhenrücken, unmittelbar östlich der Kreuzung der Straße von Windecken nach Hanau mit den von Bergen über Kilianstädten nach Marköbel führenden sog. "Hohen Straße" einen gedrungenen mächtigen Lindenbaum mit weit ausladenden Ästen, der durch seinen Standort und herrlichen Wuchs eines jeden Aufmerksamkeit in hohem Grade fesselt: den Wartbaum oder, wie er trotz seines ehrwürdigen Alters und seiner kraftvollen Erscheinung gewöhnlich bezeichnet wird, das Wartbäumchen (vgl. Taf. XIV). Ob diese Bezeichnung zurückreicht in die Zeit, in der er noch klein war und den Namen eines Baumes noch nicht verdiente, oder ob sie ein Kosename ist, wer will es fragen? So nennt wohl die Mutter noch oft mit zärtlichem Kosewort, mit der Verkleinerungsform des Namens den Sohn, der längst zum starken Mann herangewachsen ist und sie um Haupteslänge überragt, denn sie liebt ihn und denkt noch gerne an die Zeit zurück, da er ein Knäblein war; in gleicher Weise denken auch vielleicht die Einwohner der um den Wartbaum zunächst liegenden Ortschaften, die Windecker, Roßdorfer, Kilianstädter und Ostheimer, bei seiner Benennung als Wartbäumchen an seine Jugendzeit und drücken damit zugleich ihre Zuneigung zu dem Baume aus: sie hängen an ihm und haben ihn lieb; sie möchten ihn nicht um vieles missen, denn er ist ein herrlicher Schmuck und das Wahrzeichen der Heimat. Wie von hoher Warte schaut er auf die gesegneten Fluren, die zu seinen Füßen vom fleißigen Landmann bestellt werden, und weithin in das Land hinein, das sich ausbreitet, begrenzt von Taunus, Vogelsberg und Spessart. In dem Schatten seiner Äste haben schon viele von beschwerlicher Wanderung ausgeruht, und alle, die seit Jahrhunderten hier weiter nichts als ein stilles Plätzchen für kurze Kraft suchten, haben mehr gefunden als begehrt; sie wurden noch erfeut durch eine herrliche Fernsicht in die ganze Umgegend. Wohl kaum ein Punkt im Norden unseres Kreises ist es so wert aufgesucht zu werden wie gerade die Höhe, auf der das Windecker Wartbäumchen steht.

Unser Blick schweift aber von dieser Stelle nicht nur über die reichen gesegneten Gefilde unserer Heimat; er wird von dieser Stelle auch in ihre Vergangenheit gelenkt, denn der Wartbaum erzählt uns mancherlei aus der Hanauer Landesgeschichte, ja auch aus der Geschichte unseres deutschen Volkes bis in die neuste Zeit hinein.

Sicher hat der Baum seinen Namen von einer der längst eingegangenen Warten, die zur Sicherung der noch aus der römischen Zeit herrührenden von der 'Porta principalis dextra' des Marköbeler Kastells nach Nied über Bergen führenden "Hohen Straße" angelegt waren und von denen eine noch 1544 als zwischen Kilianstädten und Bergen befindlich "an der ferrst lohe" erwähnt wird. Eine lateinische Bezeichnung des Wartbäumchens finden wir in einem alten Windecker Kirchenbuch. Am 31. Januar 1658 wird ein Mann, der infolge der herrschenden großen Kälte auf der Straße "prope ad arborem speculatoriam" - in der Nähe des Wartbaums - seinen Tod gefunden, begraben.

Ins Licht der Geschichte tritt das Wartbäumchen in den Tagen, die der durch eine langwierige, heldenhaft ertragene Belagerung schwer geprüften Stadt Hanau Hilfe und Rettung brachten: In der Nacht vom 10. auf den 11. Juni 1636 ließ Landgraf Wilhelm V. von Hessen, nachdem er in Windecken angekommen war, auf der Höhe "bei dem Wartbäumchen genannt" ein Geschütz aufführen und den Belagerten durch zwei Kanonenschüsse sowie durch ein weithin leuchtendes Fanal seine Ankunft und die Nähe seines Heeres melden. Dem die Schweden zur Unterstützung der Hessen herbeiführenden Feldmarschall Leslie gelang es, aufgehalten durch schlechte Wege, erst am 12. Juni sich mit der Macht des Landgrafen zu vereinigen. Der Angriff auf den Hanau belagernden General Lamboy wurde auf den folgenden Tag festgesetzt, an dem dann auch die Stadt befreit wurde. Nach drei Tagen, am 16. Juni, sah der Wartbaum die siegreich heimkehrenden hessichen Truppen auf dem Weg nach der Heimat.

Der Dreißigjährige Krieg ist zu Ende; emsige Arbeit von mehr als 100 Jahren, freilich oft genug gestört durch schlimme Zeiten, hat versucht, seine Spuren zu tilgen, verharschende Wunden zu heilen, zerstörte Städte und Dörfer wiederherzustellen und das zertretene Land in frühem Umfang unter den Pflug zu nehemen; da tobt von neuem ein langjähriger verheerender Krieg durch Deutschlands Gaue; der Siebenjährige Krieg gibt wieder fremden Völkern Anlaß, in die Verhältnisse unseres Vaterlandes einzugreifen und ihre Truppen auf seinem Boden sich tummeln zu lassen. Auch davon weiß das Wartbäumchen etwas zu berichten. 

Der Krig von 1756 bis 1763 sah Hessen, dem 1736 die Grafschaft Hanau-Münzenberg nach dem Erlöschen ihres Grafenhauses zugefallen war, an der Seite Preußens. Hanau fiel bald in die Gewalt der Franzosen, in der es bis zum Ende des Krieges blieb. Am 2. Januar 1759 bemächtigte sich ihr Führer, der Prinz von Soubise, der Stadt Frankfurt, die der Herzog Ferdinand von Braunschweig ihnen entreißen wollte. Am 12. April 1759 hatte er sein Hauptquartier in Windecken, wo einige 60 Gefangene gemacht wurden und seine Armee in drei Heeressäulen ankam. Als ihr Sammelplatz war für den 13. April die Höhe beim Wartbäumchen zwischen Roßdorf und Kilianstädten bestimmt. Von hier aus griff der Herzog die feste Stellung der Franzosen bei Bergen an, ohne den Sieg an seine Fahnen heften zu können, und in der Nacht vom 13. auf den 14. April 1759 sah der Wartbaum, wohin sich das deutsche Heer zurückgezogen hatte, auf das Lager derer, die der Übermacht den Sieg zu entreißen nicht imstande gewesen waren, und die alte Linde ist Zeuge vom Trauern und Klagen eines geschlagenen deutschen Heeres.
 
Aber der Wartbaum weiß uns auch von jubelnder Freude über die Besiegung und Niederwerfung desselben Feindes zu berichten. Freilich, schwere Zeiten hat er inzwischen gesehen. Das Joch der Fremdherrschaft hat jahrelang auf dem Lande gelastet, und ehe es noch vollends zerbrochen ist, schallt am 30. und 31. Oktober 1813 der Donner der Schlacht von Hanau zu ihm herauf. Napoleon muß trotz seines Erfolges über die Bayern seine Flucht nach Frankreich fortsetzen; seine Macht hat bei Leipzig die Todeswunde erhalten. Der GEdächtnistag jener Schlacht wurde 1814 auch am Wartbaum festlich in glanzvoller Weise begangan, wie in ganz Deutschland, so daß Ernst Moritz Arndt damals sagen konnte: "Wie Deutschland im Feuer aufgestanden war und aus Feuer und Flamme die Freiheit rettete, so hat es im Feuer die heiligen Tage begangen, so daß Stolz und Ehre auf das Wiedererrungene es hoch erhoben." 

Am 18. Oktober 1814 versammelte sich eine unabsehbare Menge, die auf 8-10000 Personen geschätzt wurde, außer von Windecken selbst von Hanau und den benachbarten Orten beim Wartbaum, nachdem überall mit den Glocken zum Abmarsch gerufen war. Jede Gemeinde wurde mit dem Ehrengruß aus drei Kanonen empfangen. Alle waren festlich gekleidet und geschmückt, Lob- und Dankesgesänge schallten zum Himmel empor, und unter dem Klang der Musikinstrumente drang aus Tausenden von Kehlen nur eine Stimme, sprach nur eine Seele, tönte nur ein Lob dem Allerhöchsten. Hierauf hielt der reformierte, schon 1823 frühverstorbene Pfarrer Karl Wilhelm Zimmermann, von dessen machtvoller Persönlichkeit die Windecker noch nach mehr als einem halben Jahrhundert erzählten, die begeisterte und begeisternde Festrede, nach deren Beendigung die ganze Menge laut schwur, Gott und dem Vaterland treu zu bleiben bis in den Tod. Nach dieser Feierlichkeit wurde unter schallender Musik der erste und zwei Stunden darauf der zweite Holzstoß angezündet; das Feuer brannte bis 12 Uhr nachts. "Die fröhliche Menge jauchzte des erhebenden Anblicks, und umher durch die Flammen auf allen Bergen in der Ferne und in der Nähe, wie von einem großen Feuerkranze umgeben zu sein... Sich beglückwünschend, solchen Tag erlebt zu haben, ging man auseinander und verprach sich, kräftig zu arbeiten, daß dieser teutsche Tag alljährlich in immer günstigere Aufnahme komme."

Eine Wiederholung des Festes von 1814 fand am 18. Oktober 1863 statt; wieder wurden weithin leuchtende Freudenfeuer dort angezündet, und eine große Menschenmenge aus nah und fern versammelte sich bei dem historischen Baum, wo Pfarrer Johann Friedrich Joachim Schlicht von Windecken die Festrede hielt. Die hundertjährige Gedenkfeier der Leipziger Schlacht fand am 19. Oktober 1913 statt; nach einem Festgottesdienst zog ein wohlgeordneter Zug zum Wartbaum, wo Pfarrer Carl Henß zur Versammlung sprach und nach einem geschichtlichen Rückblick von den Aufgaben und Forderungen der Gegenwart und Zukunft handelte. Musikvorträge und Gesänge umrahmten die Feier. Bengalische Beleuchtung des Wartbaums, Raketen und Feuerwerk gingen dem Abbrennen des 16 Meter hohen Holzturmes voraus. Spät am Abend ging ein Fackelzug in die Stadt zurück, von
Kanonenschüssen begrüßt; auf dem beleuchteten Marktplatz endete die Feier mit dem Absingen des Liedes: "Deutschland, Deutschland über alles".

Den Kriegs- und Friedensbildern, die am Wartbäumchen vor unserem Auge auftauchten, reihen wir noch eines an, das große Kaisermanöver von 1897, wo zum ersten Male nord- und süddeutsche Truppen, Preußen, Hessen und Bayern, unter den Augen ihres obersten Kriegsherrn Proben ihrer Leistungsfähigkeit ablegten. In den beiden ersten Tagen, am 6. und 7. September, sah der Wartbaum eine Menge von hervorragenden Fürstlichkeiten, Heerführern und fremdherrlichen Offizieren: den Kaiser und die Kaiserin von Deutschland, den König von Sachsen, König und Königin von Italien, Großherzog und Großherzogin von Hessen, den Prinzregenten Luitpold von Bayern, die Prinzen Loepold und Rupprecht von Bayern, die Kommandierenden Generäle des 11. preußischen Armeekorps, Grafen von Helseler und Wittich; den Großfürsten Nikolaus Nikolajewitsch von Russland; ferner Vertreter der russischen, österreichischen, französischen, englischen, türkischen und sogar japanischen Armee; sie alle haben unter dem Wartbaum gehalten und seine Erinnerungen um eine der geschichtlich wertvollsten bereichert.

So kann die alte Linde dort oben auf der Höhe uns manches aus der Vergangenheit erzählen; das Schönste aber, von dem sie weiß, ist des deutschen Volkes Einigkeit und geschlossene Einheit in der Gegenwart. Als Warner und Mahner steht sie einsam auf stolzer Höhe, und was sie uns zu sagen hat, möge beherzigt werden!

Wir scheiden von dem Wartbäumchen mit dem Gruß und dem Wunsch: 'Arbor speculatoria, vivas, crescas, floreas!' Wartbäumchen, du liebes, bleibe und gedeihe bis in die ferne Zukunft! Wir hoffen ihm und uns zum Heil, daß es noch Jahrhunderte des Friedens auf die gesegneten Fluren unserer schönen Heimat herniederschauen möge !


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