XIV. Das Wartbäumchen bei Windecken
Wenn man von Windecken nach Roßdorf
geht, findet man ungefähr in der Hälfte des Weges, auf dem zwischen
den beiden Orten sich erstreckenden Höhenrücken, unmittelbar
östlich der Kreuzung der Straße von Windecken nach Hanau mit
den von Bergen über Kilianstädten nach Marköbel führenden
sog. "Hohen Straße" einen gedrungenen mächtigen Lindenbaum mit
weit ausladenden Ästen, der durch seinen Standort und herrlichen Wuchs
eines jeden Aufmerksamkeit in hohem Grade fesselt: den Wartbaum oder, wie
er trotz seines ehrwürdigen Alters und seiner kraftvollen Erscheinung
gewöhnlich bezeichnet wird, das Wartbäumchen (vgl. Taf. XIV).
Ob diese Bezeichnung zurückreicht in die Zeit, in der er noch klein
war und den Namen eines Baumes noch nicht verdiente, oder ob sie ein Kosename
ist, wer will es fragen? So nennt wohl die Mutter noch oft mit zärtlichem
Kosewort, mit der Verkleinerungsform des Namens den Sohn, der längst
zum starken Mann herangewachsen ist und sie um Haupteslänge überragt,
denn sie liebt ihn und denkt noch gerne an die Zeit zurück, da er
ein Knäblein war; in gleicher Weise denken auch vielleicht die Einwohner
der um den Wartbaum zunächst liegenden Ortschaften, die Windecker,
Roßdorfer, Kilianstädter und Ostheimer, bei seiner Benennung
als Wartbäumchen an seine Jugendzeit und drücken damit zugleich
ihre Zuneigung zu dem Baume aus: sie hängen an ihm und haben ihn lieb;
sie möchten ihn nicht um vieles missen, denn er ist ein herrlicher
Schmuck und das Wahrzeichen der Heimat. Wie von hoher Warte schaut er auf
die gesegneten Fluren, die zu seinen Füßen vom fleißigen
Landmann bestellt werden, und weithin in das Land hinein, das sich ausbreitet,
begrenzt von Taunus, Vogelsberg und Spessart. In dem Schatten seiner Äste
haben schon viele von beschwerlicher Wanderung ausgeruht, und alle, die
seit Jahrhunderten hier weiter nichts als ein stilles Plätzchen für
kurze Kraft suchten, haben mehr gefunden als begehrt; sie wurden noch erfeut
durch eine herrliche Fernsicht in die ganze Umgegend. Wohl kaum ein Punkt
im Norden unseres Kreises ist es so wert aufgesucht zu werden wie gerade
die Höhe, auf der das Windecker Wartbäumchen steht.
Unser Blick schweift aber von dieser Stelle nicht nur
über die reichen gesegneten Gefilde unserer Heimat; er wird von dieser
Stelle auch in ihre Vergangenheit gelenkt, denn der Wartbaum erzählt
uns mancherlei aus der Hanauer Landesgeschichte, ja auch aus der Geschichte
unseres deutschen Volkes bis in die neuste Zeit hinein.
Sicher hat der Baum seinen Namen von einer der längst
eingegangenen Warten, die zur Sicherung der noch aus der römischen
Zeit herrührenden von der 'Porta principalis dextra' des Marköbeler
Kastells nach Nied über Bergen führenden "Hohen Straße"
angelegt waren und von denen eine noch 1544 als zwischen Kilianstädten
und Bergen befindlich "an der ferrst lohe" erwähnt wird. Eine lateinische
Bezeichnung des Wartbäumchens finden wir in einem alten Windecker
Kirchenbuch. Am 31. Januar 1658 wird ein Mann, der infolge der herrschenden
großen Kälte auf der Straße "prope ad arborem speculatoriam"
- in der Nähe des Wartbaums - seinen Tod gefunden, begraben.
Ins Licht der Geschichte tritt das Wartbäumchen in
den Tagen, die der durch eine langwierige, heldenhaft ertragene Belagerung
schwer geprüften Stadt Hanau Hilfe und Rettung brachten: In der Nacht
vom 10. auf den 11. Juni 1636 ließ Landgraf Wilhelm V. von Hessen,
nachdem er in Windecken angekommen war, auf der Höhe "bei dem Wartbäumchen
genannt" ein Geschütz aufführen und den Belagerten durch zwei
Kanonenschüsse sowie durch ein weithin leuchtendes Fanal seine Ankunft
und die Nähe seines Heeres melden. Dem die Schweden zur Unterstützung
der Hessen herbeiführenden Feldmarschall Leslie gelang es, aufgehalten
durch schlechte Wege, erst am 12. Juni sich mit der Macht des Landgrafen
zu vereinigen. Der Angriff auf den Hanau belagernden General Lamboy wurde
auf den folgenden Tag festgesetzt, an dem dann auch die Stadt befreit wurde.
Nach drei Tagen, am 16. Juni, sah der Wartbaum die siegreich heimkehrenden
hessichen Truppen auf dem Weg nach der Heimat.
Der Dreißigjährige Krieg ist zu Ende; emsige
Arbeit von mehr als 100 Jahren, freilich oft genug gestört durch schlimme
Zeiten, hat versucht, seine Spuren zu tilgen, verharschende Wunden zu heilen,
zerstörte Städte und Dörfer wiederherzustellen und das zertretene
Land in frühem Umfang unter den Pflug zu nehemen; da tobt von neuem
ein langjähriger verheerender Krieg durch Deutschlands Gaue; der Siebenjährige
Krieg gibt wieder fremden Völkern Anlaß, in die Verhältnisse
unseres Vaterlandes einzugreifen und ihre Truppen auf seinem Boden sich
tummeln zu lassen. Auch davon weiß das Wartbäumchen etwas zu
berichten.
Der Krig von 1756 bis 1763 sah Hessen, dem 1736 die Grafschaft
Hanau-Münzenberg nach dem Erlöschen ihres Grafenhauses zugefallen
war, an der Seite Preußens. Hanau fiel bald in die Gewalt der Franzosen,
in der es bis zum Ende des Krieges blieb. Am 2. Januar 1759 bemächtigte
sich ihr Führer, der Prinz von Soubise, der Stadt Frankfurt, die der
Herzog Ferdinand von Braunschweig ihnen entreißen wollte. Am 12.
April 1759 hatte er sein Hauptquartier in Windecken, wo einige 60 Gefangene
gemacht wurden und seine Armee in drei Heeressäulen ankam. Als ihr
Sammelplatz war für den 13. April die Höhe beim Wartbäumchen
zwischen Roßdorf und Kilianstädten bestimmt. Von hier aus griff
der Herzog die feste Stellung der Franzosen bei Bergen an, ohne den Sieg
an seine Fahnen heften zu können, und in der Nacht vom 13. auf den
14. April 1759 sah der Wartbaum, wohin sich das deutsche Heer zurückgezogen
hatte, auf das Lager derer, die der Übermacht den Sieg zu entreißen
nicht imstande gewesen waren, und die alte Linde ist Zeuge vom Trauern
und Klagen eines geschlagenen deutschen Heeres.
Aber der Wartbaum weiß uns auch von jubelnder Freude
über die Besiegung und Niederwerfung desselben Feindes zu berichten.
Freilich, schwere Zeiten hat er inzwischen gesehen. Das Joch der Fremdherrschaft
hat jahrelang auf dem Lande gelastet, und ehe es noch vollends zerbrochen
ist, schallt am 30. und 31. Oktober 1813 der Donner der Schlacht von Hanau
zu ihm herauf. Napoleon muß trotz seines Erfolges über die Bayern
seine Flucht nach Frankreich fortsetzen; seine Macht hat bei Leipzig die
Todeswunde erhalten. Der GEdächtnistag jener Schlacht wurde 1814 auch
am Wartbaum festlich in glanzvoller Weise begangan, wie in ganz Deutschland,
so daß Ernst Moritz Arndt damals sagen konnte: "Wie Deutschland im
Feuer aufgestanden war und aus Feuer und Flamme die Freiheit rettete, so
hat es im Feuer die heiligen Tage begangen, so daß Stolz und Ehre
auf das Wiedererrungene es hoch erhoben."
Am 18. Oktober 1814 versammelte sich eine unabsehbare
Menge, die auf 8-10000 Personen geschätzt wurde, außer von Windecken
selbst von Hanau und den benachbarten Orten beim Wartbaum, nachdem überall
mit den Glocken zum Abmarsch gerufen war. Jede Gemeinde wurde mit dem Ehrengruß
aus drei Kanonen empfangen. Alle waren festlich gekleidet und geschmückt,
Lob- und Dankesgesänge schallten zum Himmel empor, und unter dem Klang
der Musikinstrumente drang aus Tausenden von Kehlen nur eine Stimme, sprach
nur eine Seele, tönte nur ein Lob dem Allerhöchsten. Hierauf
hielt der reformierte, schon 1823 frühverstorbene Pfarrer Karl Wilhelm
Zimmermann, von dessen machtvoller Persönlichkeit die Windecker noch
nach mehr als einem halben Jahrhundert erzählten, die begeisterte
und begeisternde Festrede, nach deren Beendigung die ganze Menge laut schwur,
Gott und dem Vaterland treu zu bleiben bis in den Tod. Nach dieser Feierlichkeit
wurde unter schallender Musik der erste und zwei Stunden darauf der zweite
Holzstoß angezündet; das Feuer brannte bis 12 Uhr nachts. "Die
fröhliche Menge jauchzte des erhebenden Anblicks, und umher durch
die Flammen auf allen Bergen in der Ferne und in der Nähe, wie von
einem großen Feuerkranze umgeben zu sein... Sich beglückwünschend,
solchen Tag erlebt zu haben, ging man auseinander und verprach sich, kräftig
zu arbeiten, daß dieser teutsche Tag alljährlich in immer günstigere
Aufnahme komme."
Eine Wiederholung des Festes von 1814 fand am 18. Oktober
1863 statt; wieder wurden weithin leuchtende Freudenfeuer dort angezündet,
und eine große Menschenmenge aus nah und fern versammelte sich bei
dem historischen Baum, wo Pfarrer Johann Friedrich Joachim Schlicht von
Windecken die Festrede hielt. Die hundertjährige Gedenkfeier der Leipziger
Schlacht fand am 19. Oktober 1913 statt; nach einem Festgottesdienst zog
ein wohlgeordneter Zug zum Wartbaum, wo Pfarrer Carl Henß zur Versammlung
sprach und nach einem geschichtlichen Rückblick von den Aufgaben und
Forderungen der Gegenwart und Zukunft handelte. Musikvorträge und
Gesänge umrahmten die Feier. Bengalische Beleuchtung des Wartbaums,
Raketen und Feuerwerk gingen dem Abbrennen des 16 Meter hohen Holzturmes
voraus. Spät am Abend ging ein Fackelzug in die Stadt zurück,
von
Kanonenschüssen begrüßt; auf dem beleuchteten
Marktplatz endete die Feier mit dem Absingen des Liedes: "Deutschland,
Deutschland über alles".
Den Kriegs- und Friedensbildern, die am Wartbäumchen
vor unserem Auge auftauchten, reihen wir noch eines an, das große
Kaisermanöver von 1897, wo zum ersten Male nord- und süddeutsche
Truppen, Preußen, Hessen und Bayern, unter den Augen ihres obersten
Kriegsherrn Proben ihrer Leistungsfähigkeit ablegten. In den beiden
ersten Tagen, am 6. und 7. September, sah der Wartbaum eine Menge von hervorragenden
Fürstlichkeiten, Heerführern und fremdherrlichen Offizieren:
den Kaiser und die Kaiserin von Deutschland, den König von Sachsen,
König und Königin von Italien, Großherzog und Großherzogin
von Hessen, den Prinzregenten Luitpold von Bayern, die Prinzen Loepold
und Rupprecht von Bayern, die Kommandierenden Generäle des 11. preußischen
Armeekorps, Grafen von Helseler und Wittich; den Großfürsten
Nikolaus Nikolajewitsch von Russland; ferner Vertreter der russischen,
österreichischen, französischen, englischen, türkischen
und sogar japanischen Armee; sie alle haben unter dem Wartbaum gehalten
und seine Erinnerungen um eine der geschichtlich wertvollsten bereichert.
So kann die alte Linde dort oben auf der Höhe uns
manches aus der Vergangenheit erzählen; das Schönste aber, von
dem sie weiß, ist des deutschen Volkes Einigkeit und geschlossene
Einheit in der Gegenwart. Als Warner und Mahner steht sie einsam auf stolzer
Höhe, und was sie uns zu sagen hat, möge beherzigt werden!
Wir scheiden von dem Wartbäumchen mit dem Gruß
und dem Wunsch: 'Arbor speculatoria, vivas, crescas, floreas!' Wartbäumchen,
du liebes, bleibe und gedeihe bis in die ferne Zukunft! Wir hoffen ihm
und uns zum Heil, daß es noch Jahrhunderte des Friedens auf die gesegneten
Fluren unserer schönen Heimat herniederschauen möge ! |